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Der Tod ist unanständig, man muss ihn verheimlichen, obwohl er von oben nach unten ausgeteilt wird und alle dies wissen. Zuoberst sitzt Gott, der stirbt nie, weil er Menschen, Tiere, Pflanzen tötet; die Grossen töten und fressen die Kleinen, diese die Winzlinge. Je kleiner die Lebewesen, desto zahlreicher, desto weniger zählend die Tode. Niemand fragt nach dem Lebensfünkchen der Blattlaus. Wenn die Menschen einander umbringen, explodieren Granaten und Bomben und brennen die Städte, im Frieden bimmeln die Glocken; stirbt eine Katze, stecken nur wir Kinder ein Astkreuz ins Gras. Müssen Ameisen dran glauben, schrillt kein Pieps von den offenen, glattgesäuberten Heerstrassen, die, von Erdbollwerk gesäumt, viele Meter weit durchs Rasengeviert der Gartenterrasse laufen.
Ich bin gross, und sie können sich gegen mich nicht wehren. Meine Eltern zertreten bei einem einzigen Rundgang im Garten mehr Ameisen, als ich, neben einer Ameisenstrasse kauernd, töte, aber meine Schuld ist grösser. Es muss verschiedene Tode geben. Der Tod, den ich austeile, schreit lautlos zum Himmel, schwärzt mich dort an, der Tod unterm Schuhabsatz der Mutter verklagt sie nicht. Sie weiss nichts davon. Und wer trägt die Schuld am Tod der Ameise im Krater des Ameisenbären? Fritzi und ich schubsen mit einem Strohhalm Ameisen hinunter. Der Ameisenbär trifft sie mit seinem Staubstrahl, saugt sie in seinen Trichter, und am nächsten Morgen liegen leere Chitinhüllen am Trichterrand. Warum sind wir schlecht, wenn doch Gott den Ameisenbären und die Ameise, den Tod und unsere Lust daran geschaffen hat?
In einer Schublade von Vaters mehrstöckigem Eichenholzpult liegt die Lupe. Wenn ich sie ins Sonnenlicht halte, bündeln sich im Brennpunkt die Strahlen zu einem Glutspund, der schmerzhaft in die Augen sticht und eigentlich die Sonne ist, die Stecknadelkopfsonne. Damit lässt sich alles Trockene entzünden, Blätter, Rindenstücke, die dürren Holzschwämme, mit denen ich mein Dampfdreirad beheize. Auf das braunschwarze oder rote Chitin der Ameisen wirkt der Brennpunkt augenblicklich und entsetzlich. Streicht er über ein Tier, krümmt es sich zusammen und versucht zu entfliehen. Doch bereits ist es am Verschmoren, knisternd in einem blauen, räss stinkenden Räuchlein. Ich richte mich auf und gehe weiter, in aller Öffentlichkeit Blumen bewundernd.
(Muss/will ein Kind den Tod kennenlernen? Ich vermute, ich habe dieses Spiel um Lust und Tod, Grausamkeit und Wehrlosigkeit in Stunden grössten Verlassenseins getrieben, die es in jeder Kindheit gibt. Auch springt darin ein Funke der Feuerstürme des Weltkriegs.)
→ Freiheit des Kindes→ Erste Heimlichkeit→ Kind und Öffentlichkeit→ Tödlein
Was soll ich spielen? Die Mutter ist im Obergeschoss am Aufräumen. Nach Vorschlägen, die ich vor dem Spielzeugschrank bereits verworfen habe, sagt sie: Willst du nicht unser Haus zeichnen, den Garten und dich selbst mittendrin? Ich bin unschlüssig, denn was beim Zeichnen herauskommt, entspricht nicht entfernt dem, was ich sehe. Nein, ich will nicht zeichnen. – Möchtest du das Buch vom Mond oder das Alpenblumenmärchen von Kreidolf anschauen? – Ich möchte lesen lernen, Mama, die Geschichten weiss ich auswendig. – Das lernst du in der Schule immer noch früh genug. – Aber ich will jetzt lesen lernen. Ich möchte alle Bücher lesen. Warum lehrst du mich nicht lesen? – Du musst in der Schule noch was zu lernen haben. Weisst du was? Du könntest mir im Garten die Karotten ausziehen, das ist eine wunderbare Arbeit, und die grösste gehört dann dir. Einen Moment sehe ich die riesige zweibeinige Karotte vor mir, die ich im vorigen Herbst ausgezogen habe; aber sie war hohl, und schon bricht die Empörung ob solcher Zumutung durch: Ich will keine Karotten ausziehen. Die Mutter seufzt: Warum gehst du nicht zum Sandhaufen und baust dir eine Stadt mit den schönen farbigen Förmchen? – Es kommt aber kein Wasser mehr aus der Röhre; ohne Wasser istʼs langweilig, auch sindʼs keine richtigen Häuser, nur Sandkuchen. – Dann mach einen Spaziergang zum Weiher hinauf; aber versprich mir, dass du nicht auf den Steg hinausläufst. Ich überlege: Mhm, ja. – Gut; doch ohne Kappe und Windjacke lass ich dich nicht weg, es nebelt, bald ist Winter. Ich trage einen wegwartenblauen Pullover aus Noppenwolle mit drei gehäkelten weissen Kugelknöpfen. Nein, ich will keine Windjacke. Die Mutter hat ein Federbett aufgeschüttelt; nun dreht sie sich um und schaut mir wortlos in die Augen: Dann gehst du ins Esszimmer und wartest, sagt sie leise, verlässt den Raum, ohne sich nach mir umzudrehen, und betritt das Schlafzimmer, wo mein Bruder und ich hausen und er sein kleines Arbeitspult stehen hat.
Ich laufe ihr nach; auf der Schwelle, als ob ein Verbot mich zurückhielte, bleibe ich stehen und lehne mich gegen den Türrahmen. Sie stellt die Stühle mitten ins Zimmer, legt erst die Kissen auf die Sitze, dann die Daunendecken über die Lehnen. Sie zieht die Wolldecken herunter, tritt an ein Fenster, schüttelt sie aus und wirft sie über die Federbetten. Nun greift sie nach den Laken. Ich möchte reklamieren und bringe kein Wort über die Lippen. Plötzlich ist mir, das Dach sei weggeblasen, wir schwebten beide draussen im grauen Herbstwind. Der Raum verkommt zur Fläche, die Hantierungen der Mutter zerfallen in wirre Bruchstücke, ich denke das Wort «Mutter», und die zwei Silben brechen auseinander, mu, ter, bedeuten nichts mehr, sind ein sinnloses Geräusch. Warum nicht termu, muret, trume, mertu? Was ist der Unterschied?
Ich drehe mich weg, gehe zur Treppe und lasse mich, eine Hand am geschwungenen Geländer, Stufe um Stufe hinabfallen. Mir schwindelt. Der Spielzeugschrank gähnt offen, ich stosse die verglaste Wohnzimmertür auf, klettere auf meinen Stuhl und das Rosshaarkissen, stütze die Ellenbogen auf und das Kinn in die Hände und starre durch die Fenster zum Wald hinauf, der sich dünn wie graues vor weissem Seidenpapier durch den Herbstnebel abzeichnet, und versuche mit dieser Niederlage vor mir selbst zurechtzukommen. Warum bin ich unzufrieden und traurig? Warum aufsässig? Warum bin ich, wie ich bin? Warum gibt es mich überhaupt? Kämpfend gegen die Tränen, zähle ich die Baumwipfel, denn zählen kann ich schon lange.
→ Alter und Zeit→ Patriarchat und innere Emigration→ Ränder→ Rationierung
Ein sulztrüber Winternachmittag, tiefer Schnee. Am Steilhang hinter dem Eisweiher verändern wir die Landschaft. Wir pressen Bälle, werfen sie in den Schnee und rollen sie voran. Lage um Lage wickelt sich um die Kugeln, kleine Walzen entstehen, werden mächtiger, schwerer, reissen im Bergabrollen die ganze Schneeschicht ab, spulen sie auf wie dickes Moltontuch. Endlich können wir sie nur noch mit vereinten Kräften und dank der Steilheit des Hangs ein paar Schritt weiter wälzen. Zuletzt sitzt jeder von uns atemlos und heissgearbeitet mit frostgeröteten Händen auf seiner Walze und blickt hangaufwärts auf eine grüne Grasbahn, die sich breit unter seinem Gefährt hervorschält und sich nach zehn, zwanzig Schritt im Schnee verliert. Peter ist Winnetou, Fritzi Manitus Grosser Büffel, Thomi der Adler des Zeus, und ich bin der Steinbock der Schneekönigin, denn unser Werk gehört ihr; auf Steinböcken reitet sie durch ihr eisiges Reich.
Am folgenden Morgen müssen die drei in der Schule die Köpfe ducken, nur ich lebe noch in Freiheit. In der Nacht hat sich ein schwerer Reif niedergeschlagen, der Nebel sich weggehoben, und wie ich gegen zehn Uhr vormittags in Windjacke, Wollmütze und Fäustlingen unser kleines Tal hinaufstapfe, um das Werk für die Schneekönigin zu besuchen, ergiessen sich die Buchenkronen des Waldrands als glitzernde Eisfälle aus der Tiefe des blauen Himmels. Mein Glück ist so mächtig, dass ich stehenbleibe und mich langsam und süss füllen lasse, um nicht zu zerspringen. Der Eisweiher liegt, grau eingedeckelt und mit der wirren Kurvenschrift der Schlittschuhläufer graviert, im Gebüsch. Funkenglitzernde Stille, Atemwölkchen. Vier Schneerugel stehen auf halber Höhe des Hangs. Vom eigenen Gewicht in den Boden gepresst, sind sie im Frost versteinert. Ich klettere und springe auf ihnen herum. Die krustig gefrorenen Oberflächen schneiden messerscharf wie Glassplitter. Ich bin allein, der Fröschenhof am gegenüberliegenden Hang verschwindet beinahe unter den Schneelasten. Ich besteige die grösste Walze und recke die Arme zu Hörnern hoch; ich bin der Steinbockkönig, stosse kurze scharfe Schreie aus, rufe, rufe die Schneekönigin herbei ins Glück der lichtsprühenden Welt. Januar 1945.
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