Drei Frauen und ein Bub versammeln sich am Tisch mit den gerundeten Schmalseiten; ich bin stolz, als ob auch ich schwer gearbeitet und die Zwischenmahlzeit verdient hätte. Sie sitzen auf den Stühlen mit blaugrünen Samtpolstern, mir haben sie mein Rosshaarkissen an den Platz des Vaters auf der Eckbank gelegt, wo die östliche und die südliche Fensterfront zusammentreffen. Frau Ess, welcher dieser Ehrenplatz gebührte, hätte Mühe, sich zwischen Tisch und Bank durchzuzwängen. Schwarzbrot, Butter, Käse, dazu Schwarztee in preussischblauen Steinguttassen. Frau Ess behandelt sie mit Ehrfurcht, obwohl sie wie Spielzeug in ihren fleischrosigen Wäscherinnenhänden liegen.
Draussen blinken die jungen Blätter in der Sonne. Wieder mal Glück gehabt, sagt Frau Ess. Gestern, als es nicht aufhören wollte zu regnen, bin ich mir nicht sicher gewesen, ob wir heut die Wäsche draussen würden trocknen können. – Ja, der Föhn, antwortet meine Mutter. Wir werden nach dem Zvieri die Leintücher abnehmen, nicht wahr, Vroni? Vroni nickt. Um diese Zeit allerdings wird Frau Ess sich verabschiedet haben. Noch eine Tasse, Frau Ess? – Wenn ich so frei sein darf. – Und bedienen Sie sich mit Butter und Käse. – Sehr gerne, ein herrlicher Greyerzer. – Vroni, sei so lieb und hol den Kuchen. Vroni geht hinaus, kommt zurück. Die Frauen reden halblaut, eigentlich nur über das, was vor den Augen oder unter den Händen ist. Ihr Gespräch entfernt sich allmählich, wird zum murmelnden Hintergrund, und die Vormittagssonne hüllt mich und meine halb wachträumenden Gedanken in einen warmgoldenen Kokon.
Geborgen im Schutz der drei Frauen, blicke ich von der einen zur andern. Vronis andächtiges Gesicht scheint darauf zu warten, dass man ihm etwas vorschwindelt. Ich wandere mit den Augen weiter, sehe durch die Ostfenster zu den Kirschbäumen hinüber, die bereits abgeblüht haben, mache einen Sprung in die Tiefe des Bilds, wo die hellgrünen Buchenmassive des Waldrands den Osthorizont schliessen. Ich schwimme jetzt in einem körperwarmen, leicht zu atmenden Element, mir kann nichts geschehen, ich bin zu Hause, dies sind drei Frauen, die eine Pause in der grossen Wäsche eingelegt haben, sie gehören ein bisschen mir, wie auch ich ein bisschen ihnen gehöre, im Flur hinter der verglasten Tür ist der Spielzeugschrank, und ich sitze am Platz des Vaters. Alles ist am richtigen Ort und leicht erreichbar, die Sonne macht die Worte der Frauen hell und wärmt mich; wenn ich die Augen schliesse und sie mir durch die Lider scheinen lasse, tauche ich durchs Rote Meer und weiss: Nie kann es anders werden.
→ Apfelstrudel→ Dampfdreirad→ Langweil→ Das Teeservice→ Vroni B.
Dreistöckiger, nach Westen offener Hochparterre-Hufeisenbau, Neurenaissance, 1876/1877; drei Freitreppen im Ehrenhof, zwei unter Säulengiebeln nach den beiden Seitenflügeln für die Schüler; den Lehrern vorbehalten ist der zentrale Aufgang in der Mitte des Haupttrakts unter einem von sechs Säulen getragenen Balkon mit Säulenbalustrade. Er mündet ins säulengestützte, auf Bodenniveau abgesenkte Atrium, von welchem aus zwei Ehrentreppen Richtung Nord und Süd ins erste Obergeschoss steigen. Das Verbot, das Sechssäulenportal vom Ehrenhof her zu betreten, ist in die Hirne der Schüler eingebrannt. Die Hochparterreaufgänge an den Enden der Seitenflügel sowie der gekieste Hof werden während der Pausen von den Schülern der Primarklassen mit Getümmel und Geschrei erfüllt. Unterdessen spazieren am Unterende der Auffahrt im Schatten der Kastanienallee, deren schweres Laub den Ostarm der Ringstrasse um die Altstadt zum Tunnel verdunkelt, die Lehrer.
Die eigentlichen Schülereingänge jedoch befinden sich am Nord- und Südende des Mitteltrakts, wo die Querflügel abgehen. Nur durch diese Portale erreichen die Insassen der Obergeschosse ihre Klassenzimmer innert straffreier Frist. Das Hasten und Schubsen auf den schmaleren Ecktreppen steht in stossendem Gegensatz zur flüsternden Leere und kassettendeckengeschützten Würde der für die Lehrer reservierten Ehrentreppen und macht klar, wer wer ist.
Der einzige Zugang in der riesigen Ostfront, genau gegenüber dem Ehrenportal, eine simple Tür, wird wenig benutzt. Zwar stehen die Grossen während der langen Pausen in Grüppchen hier herum. Doch nur den hageren Schulhausabwart Gloor sieht man zuweilen eintreten, dann wieder knarren die Angeln halbe Tage nicht, so dass sich der Eindruck einnistet, er sei verriegelt: Grauzone.
Das Tabu des Ost-Schlupflochs wird verstärkt durch den Karzer, der sich gleich dahinter befindet. Selten, daher Schrecken verbreitend, ist er bewohnt, denn die dort Versenkten hocken lange. Den Schlüssel trägt Abwart Gloor auf sich. Das Gerücht geht, nach mehrmaligem Aufenthalt im Karzer erfolge der Ausschluss aus der Schule: nach dem absoluten Dunkel – wobei dies umstritten bleibt – die Ausstossung in die absolute Blendung der Vogelfreiheit. Von Körperverletzung abgesehen, sind die Verbrechen aus heutiger Sicht wenig schwerwiegend. Es reichen notorisches Schuleschwänzen, schwere Beschädigung von Schul- und Schülereigentum, so von Schulbänken, Unterrichtsmaterial oder Fahrrädern, und Kleindiebstahl.
Von der funktional unklar definierten Osttür geht eine diffuse Versuchung aus. Doch die einzige Gelegenheit, da dieser gleichsam zum Orakelmund des Schulhauses avancierte (weil die vom Lehrkörper Verdammten einschlürfende) Osteingang sperrangelweit offensteht, ist der Kinderfesttag im Juli in der Schlechtwettervariante, wenn nach dem Gefecht gegen die Freischärler die Kadetten in dem von Säulen getragenen Atrium demobilisiert werden. Die schwitzenden, triefnassen Kindersoldaten und die im Diskant geschrienen Befehle der Kinderoffiziere brechen ein und entheiligen kurzfristig den dämmernden Raum des Atriums. Dann nistet sich die beinah gegenstandslose Versuchung für ein weiteres Jahr im unscheinbaren Ostloch des Schulpalasts ein.
→ Klavier und Saurier: Frank Bertschinger→ Schulzimmer des Vaters→ Turnplatz
Die Katastrophe, der Bruch, die Erkenntnis, dass ich sogar von der Mutter verschachert werde – unter Vorwänden, deren Refrain lautet: Es wird dir guttun, es geschieht zu deinem Besten.
Ich finde mich neben der Mutter in einem Schulzimmer; den Wänden entlang Stühle, darauf Kinder und Mütter. Jemand ruft die Knirpse bei Vor- und Nachnamen. Knaben und Mädchen treten vor und werden in eine der Zimmerecken gewiesen. Selbst dann noch hoffe ich, mein Name fehle auf der Liste, ja, ich bin beinahe sicher, dass zuletzt ich und die Mutter als einzige an der Wand sitzen werden und die Lehrerin uns mit der Bemerkung entlassen wird: Entschuldigen Sie, ein Irrtum; Ihr Bub muss nicht zur Schule.
Aber ich, um den herum das Bärlein, Murmeln, Holz und Blechtiere, ein Elefant, ein Haus und ein Garten schützend versammelt sind, der weiss, wo Afrika ein Horn und einen Stirnbuckel hat, der auf einer Burg residiert und vor dem Einschlafen unter der Bettdecke eine Fabrik surren lässt, ich bin wie alle, stehe bereits in einer Ecke unter einem Haufen Kinder und blicke mit zusammengepressten Lippen durch einen Tränenschleier zur Mutter hin.
Nach ungefähr einer Stunde ist der Spuk vorüber, und wir werden entlassen bis morgen, da wir allein anzutreten haben. Mir bleibt noch ein halber Tag Freiheit, dann geht das Licht aus. An diesem Nachmittag und Abend läuft die Sanduhr der Freiheit aus und mir schneidet zum ersten Mal die Verzweiflung durchs Gemüt, die man Galgenfrist nennt, obwohl es nur um die Einschulung geht. Es dauert Wochen, bis ich nicht mehr auf dem ganzen Schulweg weine und mir vor der Schulzimmertür die letzten Tränen abwische.
→ Diminutivverlust→ Erinnerungsschwur→ Gerechtigkeit
Zehnuhrpause; ich sitze auf einer Sandsteinstufe zwischen den Säulen des Treppenaufgangs in den Nordflügel. Im Ehrenhof spielen meine Kameraden und andre Primarschüler Fangis. Da springt aus dem schweren Schatten der Kastanien an der Ringstrasse ein Löwe ins Sonnenlicht und galoppiert die Schulhausauffahrt hoch. Er kümmert sich nicht um die Kinder, die ihn gar nicht zu sehen scheinen. In Sätzen nähert er sich der Freitreppe, auf der ich allein sitze. Vor Entsetzen fast lahm, erklimme ich im Zeitlupentempo die niedrigen Stufen, drücke die Klinke und versuche, die Tür zu öffnen – tonnenschwer, kaum zu bewegen. Der Kraft der Todesangst gelingt es, sie einen Spalt weit aufzustemmen. Den roten Rachen des Löwen im Nacken, schlüpfe ich in Sicherheit.
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