Zofinger Tagblatt, 24. November 1943
Verheerende Wirkungen des Luftangriffs auf Berlin. Die R.A.F. warf 2400 Tonnen Bomben ab
Insgesamt hielten sich die Geschwader 35 Minuten über Berlin auf. Etwa 20 Minunten nach dem ersten Bombenabwurf kam es zu einer gewaltigen Explosion, deren Wirkung bis zu 6500 Meter Höhe deutlich zu spüren war. Hunderte von Piloten bestätigten in der Vernehmung am Mittwoch, dass sie bisher in keinem Unternehmen eine derartig schwere Detonation mit Luftdruckwirkung in diesen Höhen wahrgenommen haben. Nach der Meinung der Artillerieleitung ist entweder ein Hauptmunitionsdepot oder ein riesiges Gaswerk in die Luft geflogen. «Die von uns allen beobachtete Explosion war unvorstellbar gewaltig. Plötzlich schoss ein glänzend weisses Licht auf, und darnach ging der Horizont langsam in eine rotglühende Farbe über.»
Auch das Schlachthaus behalte ich im Augenwinkel. Ich meide die Fegergasse, und muss ich doch durch, laufe ich den gegenüberliegenden Gehsteig entlang, vor die Füsse blickend oder einfach auf die Türen oder in die halbblinden Fenster der schmalbrüstigen Häuser. Sie sind klein, ärmlich, verlottert, denn im Dunstkreis des Schlachthauses können behäbige Häuser nicht gedeihen. Ein Bogentor gäbe Einblick. Ist die blutige Arbeit getan, am Nachmittag, steht es meist offen; Blut, Urin und Kot wird von Böden, Wänden, Winden, Haken und Messern abgespritzt, frische Luft wird eingelassen, denn Blut stinkt, und der Tod brüllt und quietscht mit Menschenstimme. Die Schauerlichkeit der verbotenen Innereien lockt, die das offene Tor auf obszöne Weise verheisst. Aber ich lasse mich nicht ertappen, lange Jahre nicht.
→Abwässer→ Gassen→ Hochkamine und Sirenen→ Krieg
Die Mutter hat meinen Bruder und mich zu Bett gebracht. Als ein Geräusch mich weckt, herrscht bei heruntergelassenen Rolläden noch die Dämmerung eines langen Frühlingsabends. Ich drehe den Kopf nach dem Raspeln oder Kichern am Betthaupt und sehe den Tod, ein grauweissliches Skelett, so gross wie ein Teddybär. Rittlings hockt er auf der obern Bettlade, klappert mit Knochen und Gebiss und grinst, erfüllt von schauerlicher Lustigkeit, auf mich herab, im Begriff, mir an die Gurgel zu springen und mich fortzuschleppen. Vor Grauen stockt mir der Atem; ich tauche unter Laken und Bettdecke, einziger Fluchtweg, wenn auch sinnlos, da es für den Tod ein leichtes sein wird, mir nachzukriechen und mich nach kurzem Kampf in luftloser Finsternis zu erwürgen. Nass von Angstschweiss warte ich den Angriff ab. In dieser Lage muss ich wieder eingeschlafen sein und mich an die Luft zurückgestrampelt haben.
(Dieser Pavor des Sechsjährigen – wir wohnten bereits im Haus über der Stadt – holte den Tod zum ersten Mal aus Wort und Bild in die mich bedrohende Wirklichkeit. Er borgte seine Gestalt aus Alfred Rethels «Totentanz»; ich kannte das Holzschnittwerk über die revolutionären Barrikadenkämpfe des Jahres 1848 gut, es lag im verglasten Bücherschrank. Nun hatte ich den Tod «lebendig» gesehen und war ihm nur entronnen, weil sein Gekicher mich zu früh geweckt hatte. Monatelang blieb die Angst, im Schlaf von ihm überfallen zu werden. Der Begriff «Tödlein» nistete sich in meinem Wortschatz ein.)
→ Ameisen – Todesspiel→ Ersticken→ Krieg→ Löwentraum
Umweltschutz – kein Mensch hatte davon gehört. Unser aller Kot und Abfall floss stellenweise offen dahin und stach in die Nase.
Die chemischen wie die Farb und Düngerwerke hinter den Bahngleisen wurden im Süden und Westen von einer Mauer umschlossen, die sich über einer Böschung hinzog, ein kleiner Kanal an ihrem Fuss wurde vom Stadtbach gespeist. Das Wasser quoll aus einem Düker etliche Meter über dem Niveau der Bahnhofsunterführung, welche die Quartiere Henzmann und Brühl mit der Stadt verbindet. Wenn die Sonne es durchleuchtete, unterschied man Menschenkot, Papier, Blutgerinnsel und andern organischen Abfall, der träge kreiselnd dahintrieb. Hundert Schritt weiter bog der Kanal um die Ecke der Umfassungsmauer nach Norden ab, und nun überblickte man eine Anzahl dünner Stahlrohre, die in regelmässigen Abständen die Böschung am Fuss der Mauer durchstiessen und ihre Abwässer in den Kanal schütteten. Jedes Rohr führte eine andere Farbe. Es tröpfelte oder rann gelb, rot, grün, blau, orangefarben. Ob der schwache Anilingeruch aus diesen Röhren quoll oder im Räuchlein enthalten war, das zwei bleistiftschlanke blitzende Stahlkamine hinter der Mauer ausstiessen, war nicht zu entscheiden. Ich atmete ihn gierig.
Dann hatte man das Areal der Farben- und Lackfabrik sowie der chemischen Werke hinter sich, doch die Betonmauer setzte sich fort. Hinter ihr duckte sich nunmehr die Pestküche des Industrieviertels, eine Düngerfabrik. Über ihren Schuppen hing bei schönem, windstillem Wetter eine gelbliche Glocke Gestank; die Mauer musste ekelerregende Geheimnisse verbergen. Wehte die Bise, schlug einem scharfer Faul- und Fäkalbrodem ins Gesicht, bei Westwind presste er sich durch die Fensterritzen in die Wohnungen des Bündtenquartiers: das Plumpsklo im Schlafzimmer.
Ein Ruck an der Hand des Vaters, dass er stehenbleibt, denn die Mauer verbirgt nicht alles. In schwer abschätzbarer Distanz, vielleicht im Hof der Knochen- und Abfallmühle, dreht sich langsam ein haushohes Rad und schlenkert fetziges triefendes Gemengsel, Lumpen, Pflanzen, Fleisch und Fellreste durch die Luft, eine primitive Mischvorrichtung. Ich vermute heute, dass es sich durch ein Becken, gefüllt mit verrottendem Müll, gedreht und dafür gesorgt hat, dass die Brühe durchlüftet und die Faulgärung befördert wurde.
Das Rad war der Ort der Umkehr. Das Kanalwasser hatte nun eine ölige Mischfarbe, es schillerte bläulichbraunrot und schäumte uringelb hinter angeschwemmten Hindernissen. Der Graben verlor sich in der Talebene. Die Giftfracht hat mich nie gestört; sie war einfach da, schon seit Urzeit, und mir vertraut. In meiner Vorstellung bin ich auf dem Damm über dem fett schillernden Abwasserkanal zwischen versengten Grasböschungen weitergegangen, bis er sich in die Wigger, mit der Wigger in die Aare, mit der Aare in den Rhein und endlich ins Meer ergoss. Dort bezeugten feinverteilte bläulichbraunrote Schlieren, dass es uns, die stinkende Fabrikkleinstadt im unschuldigen Hinterhof Europas, gab.
→ Aas→ Brände→ Fabrikgerüche→ Gestank→ Der Geruch→ Tinte
Zofinger Tagblatt
[Mehrfach auf Reklameseite]
«Mit doppelten Kräften Mehranbau 1942»
Mit Erfolg verwenden Sie unsere bestbewährten Volldünger wie Universal-Gartendünger, Organic-Volldünger, ferner Hornflocken Ia weisse, Knochen-, Klauen- und Hornmehle f. Ackerbau, Gemüse-, Blumen- und Obstkulturen. Hermann Daetwyler AG. Zofingen. Extraktionswerke, Telephon 8 17 61 und 8 17 62.
Der Bahnhof gleich hinter dem Garten von Dr. Ginella hornt, pfeift, rasselt, klenkt, dampft, zischt, raucht. Selbst nachts kündigt sich in der Ferne plötzlich ein schwaches Rollen an, schwillt zum Donnern eines durchfahrenden Güterzugs und verhallt erst nach langer Zeit. Im Gleisareal hetzen und keuchen tagsüber zwei zweiachsige Verschiebedampfloks kurzatmig hinter den Güterwagen her. Die Geräusche des Bahnhofs bleiben mir Heimat, obschon ich mit fünf aus dem Quartier wegkomme; der Geruch heissen Schmieröls und halbverbrannter Kohle ist noch heute ein Zauber.
Die Güterzüge, verdreckt und zusammengewürfelt, kommen von fern, von viel weiter her als selbst die Schnellzüge. Diese hält der Bahnhofsvorstand an, die Güterzüge lässt er passieren; er verkriecht sich vor ihnen ins Stationsgebäude oder den langen Güterschuppen. Das in den plombierten Waggons oder mit Planen überdeckten Hochbordwagen transportierte Gut, unterwegs nach Deutschland oder Italien, duldet keinen Aufschub.
Читать дальше