Trotz des Wechsels zur Manufaktur gab es Höhen und Tiefen, weshalb viele von uns oftmals ganz plötzlich entlassen wurden. Liefen die Geschäfte schlecht, kehrten wir zu unseren Eltern zurück. Vater Grimm fand sich damit ab: Nicht der Unternehmer sei schuld, sondern die Konjunktur. Andere verfielen der Trunksucht, schliefen jeden Montag ihren Absinthrausch aus, weil, so sagten sie, das Elend den Säufer mache und nicht umgekehrt. Unsere Väter aber wollten daran glauben, dass die Industrie uns am Ende Glück bringt. Von wegen!
Die Heimwerkstätten verschwanden, jetzt verkauften wir uns für drei Franken pro Tag, wo doch schon die Mittagskantine fünfundfünfzig Rappen kostete. Wir verdienten ein Viertel weniger als die Männer. Keine von uns wäre jemals, falls sie es überhaupt gewollt hätte, eine Vorgesetzte geworden. Die Unternehmer wollten uns geschickt, geduldig, gründlich. Untereinander redeten wir über die Liebe. Darüber, wie man merkt, ob es die wahre ist, wie man ihr zur Blüte verhilft, wie lange sie hält. Uns fehlte es an Erfahrung. Die Mädchen, die schon Abenteuer erlebt hatten, traurige oder fröhliche, sagten, dass das Herz geht, wohin und wann es will. Selbst mit den besten Vorsätzen sei es unmöglich, einem Kuss zu widerstehen. Manche, zum Beispiel Valentine, hatten noch nie einen Jungen geküsst. Eine wie Adèle mit ihren schönen roten Haaren hatte schon mehrere ausprobiert, und als sie schwanger wurde, weigerte sie sich, zur Engelmacherin zu gehen. Sie musste sich allein um die kleine Clémence kümmern. Andere wollten nicht darüber sprechen. Und eine sagte, wenn man zum Tanz gehe, müsse man aufpassen, dass man nicht von einem Kuss auf den Mund schwanger würde, aber das war nur Spaß, sie meinte das, was wir alle eines Tages machen würden. Aber nicht irgendwie und mit irgendwem. Die einen wussten aus sicherer Quelle, dass es beim ersten Mal wehtut, andere dagegen behaupteten, sie hätten gar nichts gespürt.
Manche von uns, wie Colette oder Juliette, die als Zeigermacherinnen an derselben Werkbank saßen, hatten Verwandte in anderen Schweizer Kantonen, aus denen Leute nach Brasilien, Kalifornien oder Australien auswanderten. Sechshundert Schweizer hatten sich auf den Weg in die eroberten Gebiete Algeriens gemacht. Dorthin hatte man auch diejenigen deportiert, die beim Pariser Aufstand von 1848 verurteilt worden waren. Die Schweizer, die nach Algerien gingen, bekamen eine Hütte, Saatgut, ein Nutzungsrecht für zwei bis zehn Hektar, und durften die Ureinwohner verjagen.
Colette hatte von einem Cousin einen Brief aus Algerien erhalten: «Von den fünfzig Familien unseres Dorfes sind innerhalb eines Jahres vierundachtzig Personen gestorben. Wir konnten nicht mehr arbeiten, sodass Teile unserer Ernten, vor allem der Mais, verdarben oder von den Schweinen verwüstet wurden, weil es nicht genug Hände zum Mithelfen gab.» Um ihre Rückreise bezahlen zu können, hatten sie alles verkauft, was ihnen geblieben war.
Unsere beiden Zeigermacherinnen sagten, sie hielten es nicht mehr aus, als Lesben beschimpft zu werden, und drüben in Amerika sei jede Art von Liebe frei. Sie lasen die Werbeannoncen im Jura bernois: Von Basel bis zur Meeresküste werde alles organisiert, hieß es, ebenso die Überseereise und die Ankunft auf dem anderen Kontinent. Bis zur Kolonie werde man sich um sie kümmern. Wie sollte man einem so schönen Versprechen widerstehen? Aus ihrer Bluse zogen sie den Zeitungsausschnitt mit der Adresse der Agentur.
Sie nannten sich selbst Anarchistinnen, brachten uns das Wort bei. Sie sagten, Anarchie bedeutete die Abschaffung von Eigentum. Und wenn kein Eigentum zu verteidigen sei, bräuchte man auch keine Regierung mehr. Valentine fand sie versponnen, gab zu bedenken, dass allzu simple Ideen nichts taugten, um die Welt zu verändern. Sie hatten Briefe aus Amerika bekommen, in denen es hieß, dort könne man sein Glück machen. Bettelarm fahre man hin und kehre reich zurück. Dort drüben siebe man ein paar Stunden lang Kieselsteine aus einem Fluss und verdiene auf einen Schlag so viel wie hier in einem Jahr. Dort drüben kaufe man Land für zehn Rappen den Meter. Über Nacht klettere der Preis so hoch, dass ein Koffer nicht genüge für all die Scheine, die einem das einbringe.
In einem anderen Brief stand: «In Amerika hängst du dir ein Schild an die Tür, auf dem Zahnarzt oder Architekt steht, und niemand nennt dich einen Betrüger, auch wenn du nur Zahnklempner, Buchhalter oder Maurer bist.» Die Alten im Tal warnten, man müsse auf der Hut sein, diese Agenturnamen, diese Kompanien aus Basel und Neuchâtel riefen üble Erinnerungen wach. Ob denn das nicht dieselben seien, die damals die Neger aus Afrika nach Amerika verfrachtet hätten? Also wirklich, Herzog, van Berchem, de Pury, sagt Ihnen das denn nichts? Immer das Gleiche, schimpften die Alten, jetzt, wo sie uns nicht mehr im Dienst fremder Länder in den Tod schicken können, verführen sie unsere prächtige Jugend zum Auswandern. Drohend schwangen sie die Zeitung, sie verkrafteten es einfach nicht.
Im Jura bernois standen beunruhigende Dinge zum Thema Auswanderung, Statistiken über Skorbut, Windpocken, Blattern, Cholera. Diese Zeitungsausschnitte klebten wir in unser grünes Heft: «19,4 Prozent der Auswanderer sterben während der Reise.» – «Weil es bei der Ankunft des Schiffes in New York an Nahrung fehlte, starben dreiundzwanzig Schweizer Kinder.» – «Auf seiner Route von Antwerpen nach New York verbrannte das Segelschiff William Nelson auf offenem Meer mit Mann und Maus. Von den hundertsechsundsiebzig Schweizern überlebten nur vierundzwanzig.» Die Alten sagten: Das geschieht mit denen, die ihren Gelüsten nicht widerstehen können.
Colette und Juliette arbeiteten gemeinsam in der Werkstatt von Longines, polierten Zeiger, regulierten und bemalten sie. Flüsternd bereiteten sie ihre Abreise vor. Hörten nicht auf die Mahnungen missgünstiger Alter. Die konnten ja nicht mehr, sehnten sich zurück zu Feile und Stichel aus der Zeit vor den Manufakturen und hielten Moralpredigten. Als schließlich die Werber kamen, zählten die beiden ihre Ersparnisse zusammen und unterschrieben.
Am Abend vor ihrer Abreise fanden wir uns alle zusammen, um ihnen ein Geschenk zu überreichen. Colette und Juliette bekamen jede eine Zwiebeltaschenuhr, ein 20-Linien-Kaliber, Longines’ erstes Modell, die 20A, die ein Uhrwerk mit Ankerhemmung und Bügelaufzug besaß. Da kamen ihnen die Tränen. Wir hatten Geld gesammelt, manche von uns hatten es sich geliehen. Colette und Juliette würden ihre Zwiebel nicht in einer Uhrentasche, sondern an einer Kette zwischen den Brüsten tragen. An der Place Neuve stiegen sie in die Postkutsche. Im letzten Moment zogen sie ihre Zwiebel aus der Bluse, um die genaue Zeit unseres Abschieds zu überprüfen.
Wir beneideten sie um ihren Mut und fühlten uns wie sie für ein anderes Leben unter einem abenteuerlicheren Himmel geschaffen, wo man für Handel, Familie, Freundschaft neue Regeln erfinden müsste. Von morgens bis abends redeten wir darüber: Sollten wir es genauso machen wie sie? Lange Zeit warteten wir auf Nachricht von unseren beiden Auswanderinnen. Bis uns eines Tages zwei Todesanzeigen erreichten, abgeschickt vom Schweizer Botschafter in Talcahuano aus der chilenischen Region. Es hatte drei Monate gedauert, bis sie im Tal ankamen.
Einen Monat später trafen ein paar persönliche Gegenstände und eine Erklärung ein: Tod durch Erdrosseln. Waren sie erhängt, vielleicht gelyncht worden, weil zwei sich liebende junge Mädchen womöglich auch in Amerika auf Ablehnung stießen? Der zurückgeschickte Koffer enthielt zwei indianisch aussehende Wollröcke, ein Heft, in dem die gemeinsamen Ausgaben notiert waren, Zeitungsausschnitte des Jura bernois, zwei Haarnadeln aus Walfischelfenbein, aber keine Spur der beiden Zwiebeln.
Colette Colomb und Juliette Grosjean waren die beiden Ersten, die starben, weil sie unbedingt fortwollten. Wenn die Nächsten mit Verschwinden an der Reihe wären, wenn schließlich nur noch Valentine übrigbleiben, um die Geschichte zu erzählen, immer würden wir diese beiden als Erste nennen, obwohl wir trotz zweier Fotografien, die uns als Erinnerung geblieben waren, nicht mehr genau sagen konnten, welche Farbe ihre Augen hatten. Dunkel waren sie, besonders die von Colette mit ihrem Pferdeschwanz, Juliettes etwas weniger, die erkannte man an einem braunen Fleck auf der Stirn. Auf den Fotos sehen sie traurig, fast niedergeschlagen aus, als hätten sie beide bereits gewusst, was sie erwartete. Deshalb achteten wir im Übrigen, als wir dann selbst auswanderten, darauf, dem Apotheker für die Fotografie ein fröhliches Gesicht zu zeigen.
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