Daniel de Roulet, geboren 1944 in Genf, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Er ist seit 1997 ausschliesslich Schriftsteller, Autor mehrerer Romane und dokumentarischer Bücher, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden ist. Er lebt in Genf und in Frankreich.
Foto Yvonne Boehler
Lieferbare Titel von Daniel de Roulet im Limmat Verlag
Aus der «Simulation humaine»
– Sturz ins Blaue
– Blaugrau
– Blaues Wunder
– Die blaue Linie
Weitere Titel
– Mit virtuellen Grüssen!
– Double
– Ein Sonntag in den Bergen
– Nach der Schweiz. 27 Porträts zur Metamorphose eines Nationalgefühls
– Die Tänzerin und der Chemiker /La danseuse et le chimiste. Neun undisziplinierte Begegnungen zwischen Kunst und Wissenschaft
Daniel de Roulet
Kamikaze Mozart
Roman
Aus dem Französischen
von Maria Hoffmann-Dartevelle
Kommen Sie rasch. Mozart braucht Sie.Unbedingt. Nur mit Hilfe der Musik werdenwir diese unruhigen Zeiten überstehen. Elisabeth von Belgien an Albert Einstein 27. August 1937
1
April 1942
Seitdem ihr Wolfgang begegnet ist, kann Fumika ihn nicht mehr aus ihrem Herzen vertreiben. Im Studentinnenwohnheim klappt sie ihren Taschenspiegel auf. Morgens beim Aufwachen ist ihr rechtes Auge schmaler als das linke. Fumika, sagt sie sich, du bist zu einsam. Kalifornien und dieses Berkeley bekommen dir nicht. Du bräuchtest eine große Liebe, aber eine geteilte.
Später am Vormittag konzentriert sie sich auf ihr Klavierspiel. Eine halbe Stunde Tonleitern, dann fünf Seiten aus dem grünen Heft und anschließend Fingerübungen. Noch einmal holt sie den Spiegel hervor. Zwischen ihren Augen herrscht wieder Gleichgewicht, der Abglanz von Wolfgangs Lächeln ist verschwunden.
Sollten eines Tages, wenn dieser neue Weltkrieg zu Ende ist, andere junge Japanerinnen wie Fumika in die Vereinigten Staaten auswandern wollen, dann müssen sie eines wissen: In diesem Land ist alles zu groß. Die Hochhäuser im Zentrum von San Francisco kratzen an den Wolken. Jede x-beliebige Avenue nimmt mehr Platz ein als die Kais im Hafen von Nagasaki, wo Fumika immer dem Flugzeugträger beim Auslaufen zusah. Papierkörbe, mächtig wie Tonnen. Landesflaggen, breit wie Planen. Sogar die Haufenwolken, die vor jedem Gewitter über der Bucht schweben, sind größer als in Japan. Und in den Wohnheimbetten würden sich Riesenstudentinnen wohlfühlen, Fumika aber sehnt sich nach den Paravents aus Papier, den Bambusbrücken, dem Vulkan und nach einem charmanten europäischen Geiger …
An diesem schönen Morgen im April 1942 beendet sie ihre Übungen mit einem Stück von Mozart, das so langsam und fröhlich ist wie ein breites Lächeln. Mittags lässt sie mit dem Fuß ihren Schemel kreisen, dreht sich um sich selbst, bis der Rock aufschwingt, freut sich, dass Donnerstag ist, Schwimmbadtag. Den einteiligen Badeanzug hat sie schon zurechtgelegt. Ihre Freundin Shizuko hat sie überredet, sich die Brust nicht länger mit Bandagen einzuschnüren. Hier trägt man ein Stoffteil unter der Bluse, das sich Büstenhalter nennt. Es ist leicht zu waschen. Beim Aufhängen am Wäscheständer des Wohnheims sieht man, wie es gemacht ist. Für jede Brust eine kleine Schale, für jede Schulter einen Riemen und einen weiteren zum Verschließen im Rücken. Damit lässt sich der Busen gut verstecken, auch wenn das bei Fumika nicht nötig wäre. Tante Yu hat immer gesagt, Eleganz sei, nicht mehr Brust zu haben als ein Mann. Wer hätte gedacht, dass Tante Yus Brust eines Tages durch die einschießende Milch so stark anschwellen würde? Die Ärmste!
In der Campuskantine nimmt Fumika ihre Mahlzeit gemeinsam mit einer anderen Pianistin ein, deren Familie aus Tokio herübergekommen ist, allerdings schon vor zwanzig Jahren. Shizuko ist in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, besucht am Konservatorium von Berkeley denselben Kurs wie Fumika und spricht lieber Englisch. Mit ihren Tabletts gehen sie in den für Asiaten bestimmten, deutlich dunkleren Teil des Speisesaals. Seit dem Kriegseintritt Seiner Majestät unseres Kaisers von Japan im Dezember 1941 werden sie von den Küchenmädchen grundlos beschimpft. Heute aber vergoldet die Sonne die Spitze des Kampanile und die weißen Tulpen in den Beeten vor dem Physiklabor.
Gut gelaunt essen sie, stoßen sich mit den Ellbogen an, glucksen übermütig. Shizuko erzählt Fumika von dem Tag, als sie von einem reichen japanischstämmigen Reisimporteur ein Stipendium bekam. Dank ihm ist sie jetzt nicht mehr von ihrer Familie abhängig. Vor allem nicht von ihrem Vater, einem ziemlich gewalttätigen Mann. Für die Küchenmädchen legen sie die ausgespuckten Kirschkerne herzförmig auf ihre Tabletts, dann gönnen sie sich einen faden, ohne Zeremonie zubereiteten schwarzen Tee. Immer noch besser als Kaffee. Tee gibt es umsonst, so sparen sie Geld für die Partituren, die sie dem alten Bibliothekar abkaufen.
Die japanischen Stipendiatinnen führen ein anderes Leben als die übrigen Studentinnen. Die Bälle am Wochenende dürfen sie nicht besuchen. Im Wohnheim stehen ihnen pro Stockwerk nur zwei statt acht Duschen zur Verfügung. Im Orchester des Konservatoriums nehmen sie nur an den Proben teil. Seit letztem Dezember herrscht Auftrittsverbot.
Fumika zeigt Shizuko das Foto ihres Verlobten aus Nagasaki, den ihre Mutter und Tante Yu für sie ausgesucht haben. Sie möchte Shizukos Meinung hören. Das Foto zeigt einen würdevoll aussehenden jungen Mann in der weißen Ausgehuniform der Unteroffiziere der japanischen Luftwaffe. Shizuko, flüsternd:
«Ich finde, er hätte lächeln können.»
«Lächeln auf dem Foto? Das ist was für Amerikaner.»
«Nein, er sollte für dich lächeln, Fumika.»
«Ein Soldat hat nicht zu lächeln.»
«Liebst du ihn?»
«Nein, Wolfgang mag ich lieber.»
«Aber Herrn Tsutsui wirst du heiraten.»
Das fängt ja gut an. Alles ist schon arrangiert. Dabei mag Fumika in Wahrheit einen anderen lieber. Wolfgang, der zweite dieses Namens, ist viel größer als Mozart und nicht so zierlich. Der Geiger heißt Wolfgang Steinamhirsch. Fumika hat herausgefunden, was der deutsche Name bedeutet. Kann man einen laufenden Hirsch mit einem einzigen Stein aufhalten?
Anfangs dachte Fumika, er habe sie nicht bemerkt. Bis er sie eines Tages bat, ihn bei seinem Diplomkonzert zu begleiten. Welche Ehre! Er kommt aus der Schweiz, aus La Chaux-de-Fonds, war in Stockholm und dann in Berkeley. Bevor er die Geige abstützt, legt er sich immer ein weißes Tuch über die Schulter. Wenn er spielt, hält Fumika den Atem an, und manchmal verkneift sie sich eine Träne. Jetzt, wo er nach Chicago gezogen ist, sollte sie weniger an ihn denken. Er hat seine Tage im Labor für Teilchenphysik verbracht. Angeblich hat er dort etwas berechnet, das man nicht sieht. Ein bisschen wie in der Musik. Die hat auch noch niemand gesehen. Aber gespielt. Für ihn eine Nebenbeschäftigung. Na dann, leb wohl, Wolfgang.
«Ihr seht euch bestimmt wieder», sagt Shizuko. «In der Zwischenzeit könntest du einen anderen kennenlernen. Ich stell dir mal einen vor, der sehr gut küsst, mit der Zunge …»
Sie gehen bei der Hausmeisterin ihres Wohnheims vorbei, wo ein Fahrrad für sie bereitsteht. Eins für zwei. Badeanzüge und Handtücher verstauen sie im Lenkradkorb. Fumika setzt sich im Damensitz auf den Gepäckträger. Gemächlich radelt Shizuko die Telegraph Avenue entlang. Eine Brise fährt ihnen unter die roten Röcke und ins Haar. Fumikas Haar ist mittellang und mit dem Onduliereisen gewellt, Shizuko hat ihres zur Seite gekämmt und den Pony mit einer Klammer festgesteckt. Beide tragen ein helles Kopftuch darüber, Konservatoriumstracht.
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