Über dieses Buch
Herbst 1977: Deutschland sucht fieberhaft nach dem von der RAF entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, im Jura rebellieren die Separatisten für einen unabhängigen Kanton – da verschwindet der Offiziersaspirant Flükiger bei einer Nachtübung und wird nach einem Monat in Frankreich tot aufgefunden. Selbstmord, wird erklärt, was kaum jemand glauben mag.
In Paris erhält Niklaus Meienberg das Angebot einer großen deutschen Zeitung für eine Artikelserie. Beim Tages-Anzeiger hat er Schreibverbot. Meienberg fährt in den Jura. Auf dem Rücksitz seines Motorrads sitzt die Tochter des Bundespräsidenten Kurt Furgler, der sich für einen Kanton Jura einsetzt. Meienberg will eine Artikelserie schreiben und als Höhepunkt endlich Kurt Furgler interviewen. Aber was war mit Flükiger? Wurde er von Schmugglern ermordet? Oder kam er der RAF in die Quere? Den Separatisten? Dann werden nach einer Schießerei im Jura zwei Mitglieder der RAF verhaftet, Polizist Heusler, der im Fall Flükiger ermittelt, wird erschossen, und ein jurassischer Wirt an einer französischen Autobahn tot aufgefunden.
Mit Hilfe der fiktiven Recherche Meienbergs erzählt Daniel de Roulet von drei Todesfällen, die bis heute nicht überzeugend aufgeklärt wurden und die im Dunkel der Geschichte zu versinken drohen.
Foto André Würgler
Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Zuletzt erschienen von ihm «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» sowie «Brief an meinen Vater». Daniel de Roulet lebt in Genf.
Daniel de Roulet
Staatsräson
Roman
Aus dem Französischen von Yves Raeber
Limmat Verlag
Zürich
In Erinnerung an Maurice Born
«Übrigens erstaunlich, dass an der Universität der Nachwuchs immer noch im Glauben gelassen wird, man könne Zeitgeschichte schreiben, ohne etwas zu riskieren, und nicht auf die Tatsache hingewiesen wird, dass es antagonistische Interessen gibt und eine Harmonie zwischen Forschern und Erforschtem nicht möglich ist, sofern man den Tatsachen auf die Schliche kommen will.»
Niklaus Meienberg (1940–1993)
Sie waren achtzehn bis dreißig Jahre alt und interessierten sich für Politik. Die Groupe Bélier hatten sie gegründet, um das feindliche Bollwerk zu rammen. Ihr Maskottchen war ein schwerer Balken, an dessen Ende ein massiver Widderkopf prangte. Sie wohnten im Schweizer Jura, auf Höfen und in Dörfern, in denen man teils von der Landwirtschaft, teils von der Uhrenindustrie lebte. Die einen waren weggezogen in die Stadt, sie studierten in Lausanne, Neuenburg oder Paris. Sie wollten, wenn sie einmal nach Hause in ihre Täler und Weiden zurückkehrten, dort auch Arbeit finden. Andere hatten vor, in den Freibergen Pferde zu züchten oder Forellen am Doubs. Davon wollten sie leben.
Es waren ausschließlich junge Männer, in der Schule waren sie von den Mädchen getrennt gewesen. Einige hatten früh geheiratet, sei es, weil sie mussten, oder aus Liebe. Ihre Frauen zogen die Kinder auf, während sie sich dem Kampf für einen unabhängigen Jura verschrieben.
Ihr Interesse für die Politik unterschied sich von dem ihrer Väter, die la Mob, die Mobilmachung, erlebt hatten. Im Zweiten Weltkrieg zur Verteidigung der Schweizer Grenze mobilisiert, sprachen diese von dieser Zeit mit Wehmut und brüsteten sich dann mit ihren Heldentaten aus den Sechzigerjahren, als die Armee Flugzeuge gekauft hatte, um eine helvetische Atombombe nach Moskau zu tragen. Aus Protest schlugen sie einem Bundesrat eine jurassische Fahne auf den Kopf.
Die nachfolgende Generation war ambitionierter, sie mobilisierte auf ihre eigene Weise gegen den Waffenplatz, den die Eidgenossenschaft samt Panzern und Übungsgelände dem Jura aufzuzwingen versuchte. Einige gründeten den Front de libération jurassien und brannten kurzerhand mehrere Bauernhöfe nieder, die das eidgenössische Militärdepartement insgeheim erworben hatte. Die Armee gab ihr Projekt auf. Kämpfen zahlte sich also aus.
Sie interessierten sich für die Politik der Volksbefreiung. Und deklarierten sich als Vorkämpfer des jurassischen Volkes wie jene Algerier, welche die französischen Kolonialisten vertrieben hatten. Einige besuchten ferne Städte wie Belfast, Bilbao oder Ajaccio. Aus Belfast brachten sie Steinschleudern zurück, mit denen die englische Polizei in Schach gehalten wurde, wenn sie die Wohnquartiere wieder unter Kontrolle zu bringen versuchte. Nordirland würde bald frei sein. In Bilbao nahmen sie an Riesendemonstrationen für die Autonomie der Basken teil. Sogar in Korsika schmiedeten sie, ferienhalber am Strand liegend, Umsturzpläne mit der dortigen Unabhängigkeitsbewegung. Sie verfolgten die Situation in Quebec, wo man ebenfalls französisch sprach und frei sein wollte.
Sie verkündeten, sie würden Politik betreiben, aber nicht an der Urne, nicht à la Suisse, wo alles gleich verwässert werde. Keine Kompromisse! Sie wollten alles, und zwar subito, weg von Bern, ein neuer, unabhängiger Kanton musste her, der sich von den zweiundzwanzig anderen unterscheide. Er wäre dann der dreiundzwanzigste, und falls ihn die Schweiz verweigere, würden sie die Angliederung an Frankreich beantragen oder noch besser, eine autonome jurassische Republik gründen.
Ihre Aktionen sollten verblüffen. Einige reisten nach Paris und verschanzten sich in der Schweizer Botschaft. Der Coup war so erfolgreich, dass ein zweites Fähnlein nach Brüssel fuhr, wo es ebenfalls die Schweizer Botschaft besetzte und damit für europaweite Aufmerksamkeit sorgte. Es hätte schiefgehen können, doch waren sie militärisch überlegen, was Journalisten aus aller Welt ziemlich beeindruckte.
Ihre Politik war anders, sie bewunderten nicht nur Che Guevara, sondern auch die Vietnamesen, die sich in den Reisfeldern versteckten und die mächtigste Armee der Welt an der Nase herumführten.
So sah es im Herbst 1977 für die Béliers aus, als die Älteren vom Rassemblement jurassien, die mit Bern und der Eidgenossenschaft in Verhandlung standen, sie um etwas Mäßigung baten und darum, nicht immer nur den Bock, sondern auch mal den Gärtner zu spielen. Die Alten behaupteten, sie allein seien vernünftig, weil realistisch. Für die Béliers hingegen gab es nur eine Option: Weiterkämpfen. Was, wie wir sehen werden, nicht ganz reibungslos über die Bühne ging.
Damit Sie sich den Verlauf des Konflikts besser vorstellen können, habe ich mir einen Ermittler vorgestellt, der ihm beharrlich auf den Grund zu gehen versucht. Auf den folgenden Seiten lasse ich also den seinerzeit berühmten, heute etwas vergessenen Autor Niklaus Meienberg auftreten. Wir sind uns gelegentlich in Zürich begegnet, wir teilten dieselben Ideen. Auf ihn zurückzugreifen wird mir dabei helfen, den Jura-Konflikt verständlicher zu machen, zumal die Protagonisten alle schweigen und ihre Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen gedenken.
Mein Geburtsland spielt sich immer gern als Musterland auf. Es tut so, als könne es alle seine politischen Konflikte im Konsens und gewaltlos lösen. Dabei holten sich Kriegsherren und Könige früher Schweizer Söldner aufs Schlachtfeld, weil diese alle anderen an Grausamkeit übertrafen. Ob in den Alpen oder im Jura, man ist in der Schweiz nicht friedfertiger als in einer Pariser Banlieue, nur wird hier die soziale Ordnung weniger mit nackter Gewalt als mit Schweigen aufrechterhalten. Geschäftsgeheimnis, Staatsgeheimnis. Und deshalb tut sich die Schweizer Literatur mit der Politik so schwer. Ihre Vordenker oder Mäzene flüstern ihr ins Ohr: Weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen, erzählt uns lieber aus eurem Seelenleben.
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