– Du spinnst völlig.
– Ich schicke dem Blatt heute Abend schon mal einen ersten Artikel. Und freue mich schon auf die roten Köpfe bei den Schweizer Zeitungen, die mir das Schreiben verboten haben, kannst du mir folgen, Lydia?
Er nennt sie spaßeshalber Lydia, weil sich vor hundert Jahren ein junger und talentierter Schweizer Maler in die hübsche, Lydia genannte Schwiegertochter des Schweizer Bundespräsidenten verliebt hatte. Der Ermittler liebt dieses Spielchen: Lydia, die Tochter des jetzigen Schweizer Bundespräsidenten. So wird er selbst zum verfemten Künstler, den die Staatsgewalt verfolgt und zu brechen versucht und der sich mit einer romantischen Tat unsterblich macht. Er ist ein großer, von seiner Landesregierung drangsalierter Künstler, eine zukünftige Legende.
Flavia lässt diese Inszenierung inzwischen eher kalt. Sie zieht den Melancholiker dem Choleriker vor. Oder weit schlimmer, dem, der in Solothurn ein paar Tage zuvor einen Schriftstellerkollegen mit den Worten angesprochen hatte: Schau, wen ich mir da geangelt habe? Das ist die Tochter des Bundesrats, hättest du mir das zugetraut! In solchen Momenten schämt sich Flavia, an seiner Seite zu stehen.
Als ihr Vater vor fünf Jahren in die Landesregierung gewählt wurde, zog die Familie mit den drei jüngeren Töchtern nach Bern. Jetzt behauptet Flavia, frei zu sein, obwohl ihr Studium von den Eltern finanziert wird. Sie fotografiert ein bisschen, platziert ihre Bilder ab und zu in Zeitschriften. Statt sie immer auf ihre Familiengeschichte zu reduzieren, sagt sie, würde der Ermittler gut daran tun, für sie eine kleine, einträgliche Reportage zu finden. Sie könnte zum Beispiel die Verliebten von Paris fotografieren.
Er aber scheint vergessen zu haben, dass sie sich im Bett eben noch liebkosten, als plötzlich das Telefon klingelte. Er steht auf, immer noch im Slip, für ein Hemd ist das Leben zu kurz, zieht ein Blatt Papier in die Schreibmaschine, zündet sich eine Zigarre an. Und hackt bei laut schepperndem Wagen eine Zeile nach der anderen in die Maschine.
Martins Bewunderung für den Ermittler ist grenzenlos. Sie haben sich in der Redaktion des Tages-Anzeigers kennengelernt, wo schon das bloße Erscheinen des Kolosses mit dem zottigen Haar die Kollegen in Panik versetzte. Er las ihre Artikel, kommentierte sie laut vor allen Anwesenden, verteilte Plus- und Minuspunkte, äffte misslungene Formulierungen nach, wies auf Pleonasmen oder Schwerfälligkeiten hin. Martin schätzte seine unverfrorene Art, obwohl es ihn auch schon getroffen hatte. Für ihn bewegte sich der Ermittler auf allerhöchstem journalistischem Niveau, so fesselnd und stilsicher wusste er die Inhalte zu vermitteln. Was erklärt, warum Martin, inzwischen zum Diplomaten avanciert, sich über die gebotene professionelle Zurückhaltung schamlos hinwegsetzt. Sein Freund steht für ihn weit über dem Gesetz. Er zögert deshalb nie, die Fragen seines früheren Berufskollegen zu beantworten, es sei denn, sie würden ihm telefonisch gestellt.
Es ist der 13. Oktober, Schleyer ist schon seit achtunddreißig Tagen entführt, und der Staatsbesuch ist vor drei Wochen ohne Überraschung über die Bühne gegangen. Der Ermittler hat die beiden Aufpasser aus Bern spielend abgehängt. Er ist auf der einen Seite in den Bazar de l’Hôtel de Ville hinein- und auf der anderen wieder hinausgegangen. Der Ermittler trifft Martin in einem Café des XIII. Arrondissement, um sich mit ihm über den Besuch von Bundespräsident Scheel und Vizekanzler Genscher auszutauschen. Was sollte dieser offizielle Anlass mitten in der Krise? Keiner weiß es. Der Ermittler bedauert, beim Bundesrat kein Interview bekommen zu haben, selbst als neuer Korrespondent der deutschen Zeitung Das Blatt. Die Regierung der Bundesrepublik hat jegliche Information über Schleyers Vergangenheit mit Zensur belegt, was erklärt, warum kein einziger Artikel des Ermittlers bisher erschienen ist. In der Schweiz ist es nicht viel besser, wo Journalisten vom Bundesrat aufgefordert wurden, das Thema grundsätzlich zu meiden.
Dann greifen die beiden das seltsame Urteil des Schweizer Bundesgerichts über die jungen jurassischen Aufständischen auf, die für die Gründung eines neuen Kantons mit Sprengstoff und konsequent illegalen Methoden kämpfen. Sie sind alle zu leichten, bedingten Haftstrafen verurteilt worden, unvorstellbar. Der Ermittler meint: Der Bundesrat hat bestimmt interveniert, um die Gemüter zu beruhigen. Da im nächsten Jahr die Ratifizierung des Kantons Jura vor das Volk kommt, will er verhindern, dass die Separatisten als Terroristen erscheinen. Er befürchtet, eine Hysterie wie in Deutschland könnte die Meinungsbildung über die Schaffung eines zusätzlichen katholischen Kantons vor der Abstimmung beeinflussen.
– Da hast du wohl recht, sagt Martin, ein politisches Manöver. Übrigens haben wir einen Anruf des Präfekten aus Belfort bekommen. Zwei Jäger haben auf französischem Gebiet die Leiche eines seit dem 16. September verschwundenen jungen Schweizer Offiziers gefunden. Er wurde von einer Granate in Stücke gerissen. Ich habe die Karte studiert, der Ort, Grandvillars, ist ziemlich weit von der jurassischen Kaserne entfernt, und vor allem kann ich mir einen durch Frankreich spazierenden uniformierten Soldaten nur schwer vorstellen.
Der Ermittler fragt: Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Toten und dem Prozess der Jurassier? Oder zur Entführung Schleyers?
– Ich ermittle ja nicht, aber es kommt tatsächlich ungelegen. Ganz Deutschland sucht nach Schleyer, im eigenen Land, in Frankreich, in der Schweiz. Die Grenzen werden bewacht wie nur selten, und wenige Tage nach Schleyers Entführung wird ein verschwundener Schweizer Offizier in einem Nachbarland tot aufgefunden. Das ruft eigentlich nach einer internationalen Untersuchung. Der Präfekt hat unseren Botschafter aufgefordert, die Schweizer Polizei möglichst schnell einzuschalten.
Wenn er so etwas hört, reagiert der Ermittler wie auf Knopfdruck. Er zahlt das Bier, drückt Martin jovial die Hand, sagt: Ich glaube, du hast mir eine Idee gegeben.
Und schon rast er auf seinem Motorrad in die Rue Duval. Vor der Hausnummer 7 fallen ihm die im Straßencafé sitzenden beiden Berner auf, die offensichtlich erleichtert sind, ihn wiedergefunden zu haben. Als er seine Maschine auf den Seitenständer hievt, möchte er ihnen fast ein triumphierendes Lächeln zuwerfen.
Er stößt die Tür zu seiner Junggesellenwohnung auf und sagt zu Flavia, die sich gerade mit einer Verstragödie von Racine abmüht: Wir fahren zur Schweizer Grenze, ich hoffe, du kommst mit.
Am 8. Oktober 1977 hatten die Béliers und das Rassemblement jurassien als Protest gegen den Prozess am Bundesgericht in Lausanne, bei dem vierzehn ihrer Mitglieder wegen gelegentlichen Gebrauchs von angsteinflößendem Sprengstoff bald auf der Anklagebank sitzen würden, in Bern eine Demonstration organisiert. Große, im Wind flatternde Transparente schwingend, marschierten sie durch die Hauptstadt. Parolen wie «Zittert, ihr Feinde des Juras» und «Wir schlagen zu» waren besonders beliebt.
Die Polizeigrenadiere kannten und fürchteten sie. Die Béliers hatten den zahlreich abkommandierten Berner Rambos bei ihren Tränengaseinsätzen gegen die Bevölkerung von Moutier schon mehr als einen Straßenkampf geliefert. Die Béliers ihrerseits mauerten das Tor des Kantonsparlaments zu. Ein anderes Mal übergossen sie die Tramgleise mit Teer, um den städtischen Verkehr lahmzulegen. Dieses Mal verhüllten sie den für die Justiz stehenden großen Stadtbrunnen. An die Berner Justiz hatten sie noch nie geglaubt.
Die Angeklagten waren Mechaniker, Landwirte, Schreiner, Bauzeichner, Holzfäller, laut ihren Anwälten alles redliche Leute, gute Ehemänner und Familienväter. Aber seit sie wussten, dass der Jura entzweigeschnitten werden sollte und eine erfolgreiche Abstimmung nur einen Halbkanton versprach, beschlossen sie, die Berntreuen nicht mehr in Ruhe zu lassen. Berns Plan war, sich den Südjura mit seiner protestantischen Bevölkerung zu sichern, der nördliche Teil war katholisch.
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