Manche von uns wohnten auf den hellen Höfen des Sonnenbergs, andere, wie die Schwestern Grimm, kamen von der dunklen Seite des oberen Tals. Die meisten lebten in den Dörfern entlang der Straße nach Courtelary, wohin man musste, wenn man es mit der Obrigkeit, sprich, mit ihrem Gefängnis aufnehmen wollte. In jedem dieser Juradörfer im Talkessel wurden Sägen, Mühlen, Hämmer vom Wasser der Suze angetrieben. Wir wohnten in großen Häusern mit sanft geneigtem Walmdach, auf der einen Seite die Familie, auf der anderen zwei Kühe, auf der Rückseite war die Tennbrücke.
Trotz seines ländlichen Aussehens wandte sich unser über achthundert Meter hoch gelegenes Dorf der Uhrmacherei zu. Im Winter waren die Familien auf den einsamen Höfen der Sonnen- und Schattenseite mehrere Wochen lang eingeschneit. Die Tiere spendeten Wärme, es gab genügend Holz, um Suppe zu kochen und den Raum mit der Werkbank zu heizen, wo die Rohwerke der Uhren den fachkundigen Händen unserer Mütter oder den zarten Fingern unserer großen Schwestern anvertraut waren. Im Herbst hatten sie einige Hundert winzige Teilchen bekommen, die sie unter dem Okular mit der Pinzette fassten. Im Frühjahr, wenn die Arbeit beendet war, würden sie sie zu den Uhrmachern bringen. Die würden die Rädchen, Ritzel, Gehäuse und Zifferblätter zusammensetzen, die über hundertzwanzig Teile, die nötig waren zur Herstellung jener Uhren, die sie in ganz Europa verkauften.
Zur Zeit der Ereignisse von 1851 war Mathilde noch nicht geboren. Als 1867 ihr Vater starb, war sie elf Jahre alt. Da ihre Mutter die Trauer um ihren Mann nicht überlebte, kam die zur Vollwaise gewordene Mathilde nach Saint-Imier zu einer Krankenschwester, einer ehemaligen Arzthelferin ihres Vaters. Mathilde, das Nesthäkchen der Familie, war auch die jüngste der zehn künftigen Emigrantinnen. Einige von ihnen kannten sich schon aus der Mädchenschule. Manche hatten alle Schuljahre absolviert, andere nur einen Teil und waren mit vierzehn in die Lehre gegangen. Die, die an entlegenen Orten wohnten, mussten in die Nähe des Dorfes ziehen, kamen dort bei Verwandten unter oder in Pension.
In der Uhrmacherei wechseln Höhen und Tiefen einander ab, oft muss man die Zähne zusammenbeißen und auf den nächsten Aufschwung warten. Eine Revolution in Deutschland, ein zweiter Kaiser in Frankreich, eine Sezession in den Vereinigten Staaten, ein Streit in Konstantinopel, und unsere Väter standen ohne Arbeit da. Sogar ein alter Krieg zwischen Katholiken und Protestanten bei uns in der Schweiz hatte einmal alle Uhrmacher arbeitslos gemacht. Nach den Ereignissen von 1851 belebte sich die Konjunktur wieder. Die Väter konnten ihre Berufe mit den klangvollen Namen wieder ausüben: Guillocheur, Gehäusefedermacher, Graveur oder Zifferblattmaler. Und unsere Mütter konnten auf dem Herbstmarkt der nächstgelegenen Stadt La Chaux-de-Fonds einkaufen gehen. Es gab genug Milch, die Kinder gingen nicht mehr mit leerem Magen ins Bett. Vater Grimm sagte zu seinen Töchtern, es werde nie mehr eine Mehltauepidemie oder eine Hungersnot geben.
Pfarrer Agassiz hatte seinem ältesten Sohn einen Erbvorbezug gewährt. So konnte dieser sich mit dreiundzwanzig Jahren am Platz neben der Kirche ein Uhrmachercomptoir einrichten. Auguste kümmerte sich um die Endmontage der Uhren und verkaufte sie bis nach Portugal und Russland. Im Dorf müssen die Pfarrerskinder immer mit gutem Beispiel vorangehen, besonders das älteste. Augustes gutes Beispiel bestand darin, reich zu werden. Bei der Geburt unserer Großeltern zählte Saint-Imier vierhundert Einwohner. Inzwischen waren wir sechstausend und würden bald achttausend sein.
Unsere Väter arbeiteten sechs Tage die Woche und kamen abends spät nach Hause, außer samstags, da kamen sie um sechs. Die Familien waren kinderreich, in vielen gab es bis zu zehn Geschwister. Der Pfarrer stellte fest, dass der liebe Gott im Durchschnitt eines von fünf Kindern im ersten Lebensjahr zu sich holte. Die Bestattung war eine kurze Sache. Das nächste Kind bekam den Namen dessen, das nicht überlebt hatte. Von nun an war alles auf Fortschritt ausgerichtet. Eines Tages würde es keine Armen und keine Kriege mehr geben. Das glaubten jedenfalls unsere Eltern. Valentine, Ihre Berichterstatterin, konnte sich nicht vorstellen, dass ein Säugling wie ihr kleiner Bruder wieder auferstehen sollte.
In unseren Mädchenklassen lernten wir Nähen, Hauswirtschaft, die Prinzipien der Milchsäuregärung, aber weder die Geografie fremder Länder noch das Schießen oder die Tischlerei. Das wurde nur in den Knabenklassen unterrichtet. Als Mädchen gewöhnten wir uns an, zusammenzuhalten, auch später als Frauen, ohne allzu viel Konkurrenz.
Selbst wenn jede von uns ihren eigenen Dingen nachging, verloren wir uns nicht aus den Augen. Einige waren gerade vom Pfarrer konfirmiert worden, andere hatten schon einen festen Freund, zum Beispiel Blandine Grimm. Die einen malten sich die Lippen an und puderten sich die Wangen, die anderen fanden, man dürfe nicht provozieren.
Was Blandine betraf und da es bei den Grimms nur Mädchen gab, meinte der Vater, die Älteste müsse für ihre Schwestern ein Vorbild sein, sonst würden die Jüngeren, so sagte er, zu schamlosen Ludern. Blandine machte nur Unsinn, wozu Valentine aber nichts konnte. Blandine war Zusammensetzerin, Valentine machte gerade eine Lehre als Verstifterin-Zentriererin. Die Große hantierte mit Robustem, die Kleine brauchte Fingerspitzengefühl, um auf der Achse des Pendels, wo die Spirale mit einem Sperrstift befestigt wird, einen gespaltenen Zylinder zu justieren. Nicht so einfach, gleich nach einer Schwester wie Blandine zu kommen. Freundinnen sucht man sich aus, Schwestern nicht.
Auf dem Schiff nach Amerika würden wir später einen englischen Satz lernen, der in dem Lied Ten Little Injuns vorkommt. Am Anfang sind sie vollzählig, dann stirbt oder verschwindet in jedem Refrain eines. Ganz zum Schluss heißt es:
and then there were none
da war’n sie alle futsch
Auch wir waren anfangs zehn. Mathilde, die jüngste der zehn kleinen Negerinnen, sagte, eines Tages würden wir eine Reise um die Welt machen und irgendwann als alte Frauen wieder nach Hause kommen. Dann würden wir eine Versammlung einberufen, uns auf den Tisch stellen, unsere Lebensgeschichten erzählen und dabei so wenig wie möglich lügen. Nachdem wir richtig Stimmung im Saal gemacht hätten, bekämen wir von allen Seiten Applaus. Und würden vom Tisch springen. Und uns alle ein Bein brechen, sagte sie noch. Wir mussten ganz schön lachen bei der Vorstellung, wie wir als alte Frauen auf einem Tisch stehen und von unseren Reisen erzählen würden wie Jean-Jacques Rousseau in Die neue Héloïse, wo Saint-Preux eine abenteuerliche Reise zur Juan-Fernandez-Insel unternimmt. Mit dieser Insel haben wir damals, wie Sie sehen werden, genau ins Schwarze getroffen.
ZWEITES KAPITEL
in dem COLETTE UND JULIETTE, zwei ineinander verliebte junge Uhrmacherinnen, als Erste beschließen, nach Amerika auszuwandern, dort aber ein trauriges Schicksal erleiden.
Unsere Eltern glaubten an den Fortschritt, denn im Schweizer wie im französischen Jura florierte die Uhrenindustrie. Édouard Heuer hatte neben der Kirche eine Uhrenfabrik eröffnet. Und Léon Breitling an der Place Neuve. Le Jura bernois, die Tageszeitung von Saint-Imier, kündigte den Bau einer Eisenbahnlinie an, die bis ins Tal führen und uns erlauben würde, Genf an einem einzigen Tag zu erreichen. Der Telegraf wurde eingeweiht. Wenig später stellte ein öffentlicher Regulator in der Vorhalle der Post alle Uhren auf dieselbe Uhrzeit ein.
Die große Neuerung kam, als Francillon, der Geschäftspartner von Auguste, beschloss, eine Fabrik zu eröffnen, in der sämtliche Teile einer Uhr unter einem Dach hergestellt würden, also eine Manufaktur. Dafür wählte er ein Gelände tief im Tal, an einem Ort namens Longines. Er nutzte das Wasser der Suze, ließ eine große Halle bauen, in die durch eine Fensterreihe Licht fiel, kaufte Drehbänke, Bohrer, Walzwerke, schwere Gesenke und nummerierte Meißel und holte einen aus Amerika heimgekehrten Uhrmacheringenieur dazu. Dieser stellte mehrere Werkmeister ein, die die Hilfsarbeiter anleiteten, darunter auch einige von uns Mädchen. Unsere Eltern ermunterten uns, in die Uhrmacherei zu gehen.
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