Otto Meister, der am 28. März 1937 in Shanghai starb, sollte nicht mehr erleben, wie sehr sich seine Einschätzung bewahrheitete. Die heutigen, vielfältigen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen China und der Schweiz bestätigen seine visionäre Sichtweise.
Freunde und Träumer: Meister, Ceresole und Joseph Rock
Die Jahre von 1922–1930, die Otto Meister in Shanghai verbrachte, sind nicht nur im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Ingenieur interessant, sondern auch wegen privater Ereignisse. In jenen Jahren lernte er nämlich den Österreicher und Amerikaner Joseph F. Rock (1884–1962) kennen, einen Botaniker, Forscher, Naturbeobachter, Anthropologen, Philologen und Linguisten. Der Autodidakt, der zu jedem seiner Interessensgebiete wichtige wissenschaftliche Beiträge leistete, sollte internationale Bekanntheit erlangen. Rock unternahm von Shanghai aus, auf der Suche nach den Quellen der grossen Flüsse und den höchsten Gipfeln der Erde, lange Forschungsreisen bis in die entfernten Grenzregionen Chinas.
Eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Otto Meister und Joseph Rock ist erhalten geblieben. Sie zeugt von tiefem Respekt und einer Freundschaft zwischen zwei Persönlichkeiten, denen sich aufgrund ihrer Lebensumstände keine Möglichkeit bot, diese weiter zu vertiefen. Otto hätte Rock oftmals wohl gerne begleitet, doch seine Arbeit und die Familie erlaubten ihm nicht, sich auf solche Abenteuer einzulassen.
«Unser Bureau». Postkarte von Otto Meister mit dem dem Great Northern Telegraph Corporation Building (links), in dem das Büro von Sulzer untergebracht war, 1924.
In den über vierzig Briefen ist von Revolutionären und Banditen die Rede, aber auch von Rocks geographischen Entdeckungen, die von weltweiter Bedeutung waren und über die zwischen 1924 und 1930 in der Zeitschrift «National Geographic» Berichte erschienen. Weltweites Aufsehen erregte auch die Polemik zwischen Joseph Rock und «National Geographic»: Rock hatte in einem Artikel Messwerte zur Höhe des Minya Konka, eines Bergs in der chinesischen Region Yunnan, angegeben, denen zufolge dieser höher als der Mount Everest war. Der Fehler ging rund um die Welt. Der Briefwechsel Meister-Rock offenbart die Hintergründe der Polemik, die Dynamik des Irrtums, aber auch die Rolle Meisters in der ganzen Angelegenheit. 5
Im Briefwechsel zwischen Meister und Rock tauchen zwei weitere Schweizer auf, die zu den wichtigen Persönlichkeiten im internationalen Panorama jener Zeit gehörten. Arnold Heim (1882–1965), Sohn der ersten Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin und des Geologen Albert Heim, studierte Geologie in Zürich. Er war Privatdozent an der Universität und ETH Zürich sowie Professor an der Universität Kanton (1929–1931) und interessierte sich für die Auseinandersetzung um den «höchsten Berg der Welt». Beim zweiten handelt es sich um Pierre Ceresole (1879–1945) 6, Gründer des Internationalen Freiwilligendienstes für Frieden IVSP. Als engagierter Pazifist wollte er den Militärdienst durch einen obligatorischen Zivildienst ersetzen, eine Idee, die sich erst ein halbes Jahrhundert später in der Realität auswirken sollte. Der aus Lausanne gebürtige Ceresole erwarb an der ETH Zürich ein Ingenieurdiplom und unterrichtete von 1910 bis 1913 in Hawaii, wo er Joseph Rock kennenlernte. Von 1913 bis 1914 arbeitete er in Kobe als Ingenieur für die Firma Sulzer und war ein Kollege von Otto Meister. Meister und Rock kannten ihn also beide, und beide schätzten seine Freundschaft. Der Name Pierre Ceresole taucht in der Korrespondenz zwischen Meister und Rock immer wieder auf. 1925 schrieb Meister an Rock: «Er ist nun Sekretär der Zivildienst-Bewegung, einer pazifistischen Organisation, die versucht, den Militärdienst durch etwas Friedlicheres zu ersetzen. Ich fürchte, er wird keinen grossen Erfolg haben im Moment, da die Welt noch nicht fortschrittlich genug eingestellt ist.»
Blick von einem Schiff auf den Huangpu-Fluss, an dem die Uferpromenade Bund (Waitan) liegt.
Das East-Lancastershire-Musikkorps, Shanghai 1933.
Strassenszene, Shanghai 1933.
Red Joss House, Shanghai 1927.
Avenue Joffre (Huaihai Lu) bei Nacht, Shanghai 1933.
Am französischen Nationalfeiertag in Shanghai, 14. Juli 1933.
1937 reiste Ceresole nach einem Aufenthalt in Indien, wo er Gandhi getroffen hatte, über China und die USA nach Europa zurück. Im Tagebuch wird er als einer der Freunde erwähnt, die Meister in seinen letzten Lebenstagen besuchten.
Die letze Reise
Das Tagebuch, das Meister zwischen Januar und April 1937 führte, lässt seine Krankheit erahnen: Er litt unter Herzproblemen, musste seinen Arbeitsrhythmus verlangsamen, durfte nicht mehr ausreiten und fühlte sich oft niedergeschlagen.
Als ihm klar wurde, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, beeilte er sich, die wirtschaftliche Zukunft seiner Familie abzusichern. Es existiert eine Kopie des Testaments, das er ein Jahr vor seinem Tod verfasste und ordnungsgemäss beim Konsulat von Shanghai eintragen liess. Beim Begräbnis wurde sein Sarg von sechs uniformierten Mitgliedern des Shanghai Volunteers Corps getragen, eine Ehre, die deutlich macht, wie wichtig sein Beitrag zur Verteidigung der ausländischen Konzessionen von Shanghai in den Jahren 1925 und 1927 gewesen war und wie sehr seine jahrelange, unablässige Mitarbeit geschätzt wurde. Otto Meisters Grab befindet sich auf dem heutigen Song-Ching-Ling-Friedhof.
Das grosse China faszinierte Otto Meister aufgrund all seiner Widersprüche und vor allem seiner unendlichen Möglichkeiten. Aber genauso mit Japan und dessen Tempeln, Parkanlagen, Bergen und alten Traditionen fühlte er sich sehr verbunden. Im Laufe der Jahre hatte Otto das Wesen und die Seele des Volks der aufgehenden Sonne ebenso wie die Bevölkerung Chinas kennen und schätzen gelernt. Mit Chiyo Ishizuka (der Name bedeutet «langes Leben», und tatsächlich starb Chiyo 1982 im Alter von 96 Jahren) lebte er bis zu seinem Tod am 28. März 1937. Im Juli des gleichen Jahres fielen die japanischen Truppen in Shanghai ein. Chiyo verbrachte eine schwere Zeit in Shanghai, und schliesslich war sie gezwungen, nach Japan zurückzukehren, da die chinesische Stadtbevölkerung sich an den japanischen Einwohnern rächte.
Sohn Freddy hing sehr an seiner Mutter – der Vater war oft auf langen Geschäftsreisen –, und als Otto ihn mit vierzehn Jahren in die Schweiz brachte, litt er unter der Trennung. Vor dem Vater hatte er grossen Respekt, auch wenn er diesen als eher distanziert erlebte. Einerseits brachte Otto seinen Sohn in die Schweiz, um ihm eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, und andererseits, weil China in jenen Jahren aufgrund der politischen Lage mit ihren revolutionären Wirren äusserst gefährlich war. Der Junge war auf Schweizer Boden sicherer. Chiyo schrieb dem Sohn regelmässig aus Japan, doch der Zweite Weltkrieg setzte diesem Briefwechsel ein Ende. Erst nach Kriegsende stellte das Rote Kreuz wieder einen Kontakt her. 1981 reiste Freddy mit seiner Tochter Sylvia Meister nach Japan, wo er seine Mutter wenige Monate vor ihrem Tod ein letztes Mal sah. Sie starb in Oita (Kyushu), 45 Jahre nach Otto Meister.
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