Das Wohnhaus Avenue Joffre Nr. 1394 (heute Huaihai Lu).
Otto Meister auf seinem Pony vor dem Haus.
«Wir hatten eine ziemlich aufregende Zeit in Shanghai: Am 11. Januar [1925] ging Chi zum Angriff gegen Chang über, und eine ganze Menge chinesische Kugeln landeten in der französischen Konzession. An die 10000 Besiegte kamen in die Konzession und wurden von der Polizei, Marinesoldaten und Freiwilligen entwaffnet, bevor man sie internierte und später nach Tsingtao zurückschickte. Dann kam Chang-Tsung Chang mit seinen Panzerzügen und russischen Söldnern und Soldaten von Feng. Man rief mich nach draussen, und wir erfroren fast vor Kälte im Schiessstand, wo wir die Nacht verbringen mussten.»
Otto Meister auf dem Sitz der Kanone beim Shanghai Volunteer Corps SVC.
In einem Lagebericht an die Firma Sulzer mit dem Titel «China und die Fremden» schrieb er:
«Hierher gehört z.B. die berühmte ‹Expedition› der Engländer im Frühling dieses Jahres [1925] nach Shanghai. Es stünde wohl heute anders um diese Stadt resp. Konzessionen, wenn jene Truppen nicht dagewesen wären, die nur ca. 2000 Mann starke Bürgerwehr (Volunteers) hätte ja bei weitem nicht genügt. Tausende von Fremden, darunter Amerikaner, Deutsche, Schweizer und nicht zuletzt Chinesen selbst, haben damals die Dankadresse an die englische Regierung unterzeichnet. Übrigens hatten auch die Vereinigten Staaten, Japan, Frankreich, Portugal, Italien, ja selbst Spanien und Holland, Bewaffnete gelandet. Was Shanghai damals zu erwarten hatte, wenn dieser Schutz nicht gewesen wäre, dafür hat ja Nanking ein unheimliches Beispiel geliefert. Hätten dort die fremden Kriegsschiffe nicht im letzten Moment noch eingreifen können, so wären wohl nicht viele Ausländer mit dem Leben davongekommen. Die Zahl der Opfer ist so noch gross genug. […] Wenn also die Fremden sich vorläufig weigern, ihre Sonderrechte, soweit sie sie noch besitzen, aufzugeben; wenn sie Bürgerwehren halten und wenn nötig die militärische Hilfe ihres Mutterlandes anrufen, um ihr Leben und Eigentum zu schützen, wenn in der Umgebung einer Konzession Zivilkriege wüten und das Einbrechen geschlagener, zügelloser Soldatenhorden befürchtet wird; wenn sie ihre Handelsschiffe durch heimatliche Kriegsschiffe begleiten lassen, damit sie sich wehren können, wenn sie von den Flussufern aus grundlos beschossen werden; wenn sie die Wiederaufhebung des ‹Provisional Court› verlangen und nicht gewillt sind, ad libitum auferlegte Steuern und Zölle zu zahlen, so wird man ihnen das nicht verargen können.»
Während seiner zahlreichen Reisen auf den grossen Flüssen hatte Meister Gelegenheit, Regierungs- und Revolutionstruppen zu beobachten, die ständig unterwegs waren und gegeneinander kämpften. In ausführlichen Berichten, die er an die Firma Sulzer in Winterthur schickte, hielt er diese Beobachtungen fest. Dabei schreibt Meister, dass er auf einem Dampfschiff gereist sei, das ständig Gefahr lief, auf die scharfen Felsblöcke aufzulaufen, die überall aus dem Wasser ragten. Der Jangtsekiang, von hohen, steilen Felswänden gesäumt, welche die berühmte Schlucht Three Gorges du Yichang formten, bot ein faszinierendes Bild. Dann passierte das Schiff die Stromschnellen «Fo Mien Tan», vor allem im Sommer eine der tückischsten Stellen, wenn das Wasser einen Felsen bedeckte, der sonst bei niedrigem Wasserstand sichtbar war. Ein Buddhakopf, dessen Blick die Schiffe beschützen sollte, war in den Felsen gehauen. Lag er jedoch unter Wasser, verlor er seine Schutzfunktion. Nach überstandenen Gefahren ging die Reise weiter zwischen Landschaften, den reizvollen chinesischen Tuschmalereien gleich, mit ihren terrassenförmigen Abhängen, Bäumen, die aus dem Dunstschleier auftauchten, und kleinen Dörfern voller Leben.
Französische Barrikade am Eingang zur Hungjao-Strasse (Hongqiao), Shanghai 1927.
Strassenszene mit Soldaten, Shanghai 1927.
Strassenszene mit Panzer, Shanghai 1927.
Stellung an einer Brücke, Shanghai 1927.
Am Jessield-Park (Zhongsham Park), Shanghai 1927.
Barrikade an der Jessield-Brücke (Wanhangdu Road), Shanghai 1927.
Strassenszene in Shanghai, 1927.
Otto Meister nach japanischen Bombenangriffen auf Shanghai 1932 oder 1933.
Zwei weitere Berichte an die Firma Sulzer, «China an der Arbeit» (1933) und «Leben in China» (1935), vermitteln uns einen Querschnitt durch die chinesische Gesellschaft, besonders durch das Milieu der Bauern und Handwerker, das praktisch alle Familien umfasste, die nicht zu der damals im Niedergang begriffenen politischen oder administrativen Elite gehörten.
Die ersten bewegten Phasen dieser Revolution, die mit Mao Tse-tung allmählich eine politische Ausrichtung fand und in der Geschichte Chinas eine entscheidende Wende herbeiführen sollte, wurde vom europäischen Beobachter als ein grosses, schreckliches Chaos wahrgenommen, in dem das mehrere Tausend Jahre alte Kaiserreich unterging. Die Ausländer, insbesondere die Europäer, beeilten sich, es mit ihrem Kapital zu verlassen, um die eigenen Investitionen zu retten. In einem Brief von 1927 an seinen Freund Joseph Rock stellte Otto Meister eine Betrachtung an, die nicht nur von grosser Weitsicht, sondern auch von einer tiefen Liebe zum Orient zeugt: «Die Lage in ganz China ist schrecklich. […] Das Geschäft, besonders für die Briten, scheint zum Stillstand gekommen, und sogar unsere Leute erwägen, hier abzuziehen, was ich jedoch als grossen Fehler betrachte, denn was hier geschieht, ist nicht der Todeskampf einer sterbenden Nation, sondern die Anstrengung einer Wiedergeburt. Und das ist der einzige Lichtblick in dieser Dunkelheit.» In einem anderen Bericht von 1927, «China und die Fremden», heisst es: «Japan hat jahrzehntelang unverdrossen und zähe daran gearbeitet, die Bedingungen zu erfüllen, die heute einem zivilisierten Staate gestellt werden müssen […]. Es ist ein mühsamer Weg, aber wir glauben, es ist der einzige begehbare, und auch China wird ihn betreten müssen.»
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