1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Sie hielt inne.
Später ist er immer unglücklicher geworden. Ich sehe das erst heute so klar. Als Kind spürt man zwar eine Menge, aber kann die Sachen nicht richtig einordnen. Unglücklich war er vor allem mit meiner Mutter. Es fällt mir schwer, darüber zu reden, aber er hatte allen Grund dazu.
Michel richtete sich auf.
Aha. Und warum?
Sie holte tief Luft.
Ja, warum? Das ist nicht so einfach zu sagen. Sie hatte dauernd etwas an ihm auszusetzen. Sie ist vom Typ eine Nörglerin. Außerdem war sie es, die das Geld in die Familie brachte. Ich glaube, der Kampf zwischen ihnen wurde über uns Kinder ausgetragen. Ich war der Liebling meines Vaters, Robert der meiner Mutter. Außerdem hat sie ihre Krankheit benutzt, um ihn unter Druck zu setzen.
Wie das?
Ja, immer, wenn er etwas wollte und sie nicht, wurde sie sofort wieder krank. Das war eine simple Formel, aber es war so. Wenn ihr etwas nicht passt, wird sie krank und terrorisiert die anderen damit.
Das Letzte sagte sie heftig.
Was hat sie denn für eine Krankheit?
Sie hat eine chronische Urikopathie.
Was heißt das für Ungebildete?
Ach, verzeihen Sie: Sie hat Gicht.
Verstehe.
Sie sagten, Frau Beckmann, dass das Geld von Ihrer Mutter in die Ehe eingebracht wurde. Aber hat Ihr Vater denn nicht auch viel Geld verdient?
Sie lächelte.
Ja, schon, aber die Familie mütterlicherseits ist steinreich, verstehen Sie. Das ist gar kein Vergleich, selbst wenn Vater zeitweise auch viel verdient hat.
Wissen Sie, dass Ihr Vater seit fünf Jahren nicht mehr in der Anwaltssozietät arbeitet?
Sie senkte den Blick.
Ja, ich wusste es, aber ich bin die Einzige. Meine Mutter weiß es bis heute nicht und mein Bruder auch nicht. Vater wollte es so. Ich musste es ihm bei meinem Leben versprechen, dass das ein Geheimnis zwischen uns bleibt. Später sagte er ihnen, er hätte für die Sozietät eine Art Filialbüro für das Welschland eröffnet. Sie glauben also bis heute, dass er immer noch den gleichen Arbeitgeber hat.
Wieso hat er Ihnen das gesagt?
Ich war seine Vertraute. Lange die einzige …
Wie meinen Sie das?
Na ja, wie soll ich sagen?
Sie rutschte nervös auf dem Stuhl, als ob sie keine bequeme Stellung finden würde.
Mein Vater hat …, also hatte eine, äh … Freundin oder Geliebte, wie Sie wollen. Also, jetzt wird’s kompliziert.
Sie lehnte sich auf die Tischplatte.
Als sie meinen Vater gezwungen hatten, aus der Sozietät auszutreten, der er immerhin über fünfundzwanzig Jahre angehört hatte, ging er trotzdem jeden Tag zur gewohnten Zeit aus dem Haus und kam erst nach Büroschluss nach Hause. Was er in der Zeit den ganzen Tag gemacht hat, weiß ich nicht. Ich habe davon auch erst später erfahren. Aber in der Zeit hat er eine Frau kennengelernt. Das heißt, wenn er dann sozusagen auf Geschäftsreisen war, war er in Wahrheit bei dieser Frau.
Sie machte eine Pause. Dann schüttelte sie den Kopf.
Eine große Gemeinsamkeit hatten mein Vater und meine Mutter. Die äußere Fass ade musste unter allen Umständen gewahrt werden. Später, als er dann wieder ein eigenes Büro hatte, hat er offiziell oft dort geschlafen, weil das Büro nicht in der Hauptstadt war, sondern direkt auf der Sprachgrenze in Richtung Welschland.
Sie nannte ihm Ortschaft und Adresse.
Warum dort?
Sie zuckte mit den Achseln.
Er ist bilingual aufgewachsen und mochte diese zweisprachige Stadt schon immer. Zudem war es weit weg von Mutter.
Kennen Sie diese Frau?
Ja, und ich finde sie sehr nett, ich habe diese Freundschaft meinem Vater mehr als gegönnt. Meine Mutter hatte sich leider zu einem richtigen Drachen entwickelt, die mit allen im Streit liegt. Es klingt brutal, ist aber so.
Michel räusperte sich.
Außer mit Ihrem Bruder.
Ja, mein Bruder.
Jetzt fing sie an zu weinen. Sofort kam Tschuri und sprang auf ihren Schoß, er hatte offensichtlich gemerkt, dass seine Herrin Trost brauchte.
Sie haben eine schöne Katze, sagte Michel übertrieben verständnisvoll.
Nathalie Beckmann lächelte glücklich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Weiß diese Frau vom Tode ihres Vaters?
Ja, ich habe es ihr mitgeteilt. Ich dachte, sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.
Ja sicher. Ich will Sie auch gar nicht viel länger aufhalten, aber einen Wunsch hätte ich noch: Könnte ich ein Foto von Ihrem Vater sehen?
Sie nickte, nahm den Kater auf den Arm und ging aus dem Zimmer. Sie kam mit einem gerahmten Foto zurück und legte es vor ihm auf den Tisch.
Das Foto habe ich vor etwa fünf Jahren aufgenommen. Wir hatten zusammen einen Ausflug mit dem Schiff gemacht.
Michel nickte.
Ihr Vater hatte auf dem Foto einen dunklen Anzug mit weißem Hemd an, aber ohne Krawatte. Er lehnte sich an die Reling und lachte in die Kamera. Trotzdem überwog eine Art ernste Seriosität, die er mit seiner Haltung ausstrahlte. Ein Treuhänder, dachte Michel spontan. Seine Haare, ehemals dunkelblond, waren an den Schläfen schon deutlich grau. Obwohl Beckmann lachte, entdeckte Michel eine Art melancholischen Schatten, der über seinem Gesicht lag. Die Oberlippe drückte etwas Verdrossenes, ja sogar etwas Schmollendes aus, als habe das Schicksal ihn um ein Versprechen betrogen. Bei kleinen Kindern hatte Michel diesen Zug schon beobachtet, wenn ihnen etwas vorenthalten wird, was sie unbedingt wollen. Auf jeden Fall hatte dieses Foto mit der Leiche im Wasser, außer der Größe und der Haarfarbe, fast nichts gemein.
Ich wäre sehr froh, wenn ich das Bild fotografieren dürfte. Darf ich?
Sie nickte, überlegte es sich dann aber anders.
Wissen Sie was? Ich habe noch einen Abzug, den gebe ich Ihnen.
Oh, das ist aber sehr nett.
Sie eilte wieder aus dem Zimmer. Er hörte sie nebenan in einer Schublade suchen. Dann gab sie ihm das Bild.
Ich werde Sie informieren, wenn wir wissen, wer Ihren Vater –
Sie unterbrach ihn.
Wann wird mein Vater freigegeben, also, ich meine …
Morgen oder übermorgen, vermute ich. Aber das entscheide nicht ich. Sie kriegen Bescheid.
Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können Sie gerne wiederkommen oder wir treffen uns in der Stadt.
Ich werde bestimmt noch mehr Fragen haben.
Als Michel am anderen Morgen ins Büro kam, saß Lena bereits an ihrem kleinen Arbeitstisch und arbeitete an einem Laptop. In der Hand hielt sie ein kleines Gerät mit Antenne.
Was machen Sie da, wenn ich fragen darf?
Sie legte ihren Finger auf den Mund. Michel zuckte mit den Schultern und setzte sich an seinen Platz. Vor ihm lag der Untersuchungsbericht des Gerichtsmedizinischen Instituts. Er war bereits geöffnet.
Verdammt! Das gibt’s doch nicht.
Lena drehte sich zu ihm und bedeutete ihm noch einmal, stumm zu sein. Nach einer Weile verstaute sie das Gerät in ihrer Handtasche, klappte ihren Laptop zu, stand auf, ging zum Fenster, öffnete es und winkte Michel zu sich. Sie beugte sich über den Fenstersims und sah raus auf die Straße. Michel fragte, was das solle, und sie bedeutete ihm, es ihr gleichzutun.
Ich mache das, damit niemand hört, was wir reden.
Michel verstand nicht.
Wie meinen Sie das?
Wir werden abgehört.
Michel richtete sich auf.
Was? Das gibt’s doch nicht.
Pst. Lassen Sie uns in das Café da unten um die Ecke gehen. Ich gehe vor. Und vergessen Sie den Bericht nicht.
Sie richtete sich auf, packte auch noch ihren Laptop in die Tasche und ging raus.
Michel blickte sich verstohlen in seinem Büro um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann verließ auch er das Büro.
Als Michel in das Café kam, hatte Lena bereits zwei Kaffee bestellt.
Woher wussten Sie, dass ich ihn schwarz trinke?
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