7.2 Jesus Christus
Erfüllungszitate
Das wichtigste Faktum, unter dem Matthäus die Existenz Jesu sieht, ist das der Erfüllung des Alten Testaments. Mit Hilfe der sog. Erfüllungszitate (vgl. nur 1,22 f.; 2,15.17 f.23; 4,14–16; 8,17; 12,18–21 usw.) bringt er zum Ausdruck, dass in Jesu Schicksal und Wort zahlreiche Prophetenworte in Erfüllung gegangen sind, und betont so die Kontinuität des Jesusereignisses mit der als Prophetie verstandenen Heiligen Schrift, die zu seiner Zeit ja nur aus dem später so genannten Alten Testament bestand.
Zahlreiche Hoheitstitel
Deswegen stellt Matthäus auch nicht einen Hoheitstitel in den Vordergrund, sondern überträgt alle bei Markus vorhandenen Hoheitstitel auf Jesus, fügt weitere hinzu (z. B. Immanuel und die Zeichnung des Jesusschicksals in Mt 2 als neuer Moses) und verändert teilweise deren Verständnis. Gab es schon bei Markus eine Tendenz, die Hoheitstitel nebeneinander zu gebrauchen (vgl. nur Mk 8,27–33; 14,61 f.), so liegt diese Tendenz bei Matthäus noch verstärkt vor, wie man u. a. an den Heilungswundergeschichten sehen kann, die Matthäus in der Regel mit den Titeln Kyrios, Davidssohn und Messias verbindet, die er aber auch mit dem Gottessohn-Titel versehen kann.
Gottes Sohn durch Zeugung
Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, welche Nuancen in den Quellen dem Evangelisten aufgefallen sind und wo er wegen Nichtübereinstimmung mit seiner Theologie in seine Vorlagen eingegriffen hat, während er an anderer Stelle solche Spannungen zu seiner Theologie in seinen Quellen übersieht. So bemerkt Matthäus offensichtlich, dass das Schema einer Adoption Jesu zum Gottessohn in der Taufe mit seinen theologischen Anschauungen von der Gottessohnschaft, die in der Zeugung durch den heiligen Geist wurzeln, nicht übereinstimmt und ändert deswegen die Adoptionsformel bei der Taufe in eine Proklamationsformel (3,17 parMk), wie sie das Markusevangelium in der Verklärungsszene bietet. Nach seinem Verständnis steht Gott so sehr hinter dem Jesusereignis, dass er sogar zu dessen Existenzermöglichung in besonderer Weise eingegriffen hat, so dass Jesus von Beginn seiner Existenz Sohn Gottes ist und dazu nicht erst durch Adoption werden kann bzw. muss. Allerdings wird man deswegen nicht gleich sagen können, das Verständnis Jesu als Gottes Sohn sei für den Evangelisten besonders zentral und überrage die anderen Hoheitstitel, selbst wenn er einige Aussagen vom Gottessohn redaktionell geschaffen und diesen dabei ein besonderes Profil verliehen hat.
Das Lernen des Gotteswillens
Gerade für den heutigen Menschen aufschlussreich ist das Gottessohnverständnis der Versuchungsgeschichte, die Matthäus zwar aus der Logienquelle Q übernommen, die er sich aber aufgrund seiner Übernahme dieses Abschnittes auch zu eigen gemacht hat, so dass sie auch für ihn und seine Theologie in Anspruch genommen werden kann. Der matthäische Gottessohn ist offenbar nicht jener süße, temperament- und geschlechtslose, über alle Fragen erhabene, überaus angepasste Mensch früherer dogmatischer Vorstellungen, sondern er kennt Versuchungen, muss sich gegen diese wehren und den von Gott gewollten Weg in der Auseinandersetzung mit dem Satan finden, wobei allerdings nicht das Finden besonders hervorgehoben wird, sondern das Wissen und die Urteilskraft.
Diese Kenntnis des Willens Gottes ist ein Charakteristikum des matthäischen Gottessohnverständnisses, das auch im Zusammenhang mit der Gottessohnproklamation bei der Taufe in 3,15 eine Rolle spielt.
Innerer Kampf
Solche Kenntnis des Willens Gottes begegnet im ersten Evangelium auch unabhängig vom Gottessohn-Titel (z. B. in 5,17–7,26), die Gethsemane-Perikope aber zeigt, dass der Wille Gottes Jesus nach Ansicht des Matthäus nicht in jeder Situation einfach und klar vor Augen steht und wie von selbst von ihm erfüllt wird, sondern dass das Sich-Einfügen in diesen Willen auch für Jesus inneren Kampf bedeuten kann (26,39.42). Jesus benutzt zwar bei seinem zweiten, von Matthäus eingefügten Gebet in Gethsemane die Formulierung des Vaterunsers „Es geschehe dein Wille“ (26,42), aber welche inneren Schwierigkeiten ihm dies nach dem Verständnis des Matthäus bereitet, deutet der Evangelist durch den zweimal vorangestellten Halbsatz an: „wenn dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann“. Sowohl in der Versuchungsgeschichte als auch in der Szene unter dem Kreuz (27,40.43) setzt Matthäus sich mit einem ganz anderen Verständnis der Gottessohnschaft auseinander und lehnt dieses ab. Zwar könnte der von Matthäus gezeichnete Jesus sicher vom Kreuz herabsteigen (vgl. nur 26,53), tut dies aber gerade nicht, weil er in Gethsemane gelernt hat, dass das Kreuz der Wille seines Vaters ist. – Insofern das Tun des Willens Gottes auch die von Jesus den Menschen zugewiesene Aufgabe ist (7,21; 12,50), hat der Jesus des Matthäus hier auch eine Vorbildfunktion. Allerdings sind Matthäus unsere Vorstellungen vom Gottessohn, die diesen dem Menschsein entheben, auch nicht ganz fremd, wie man daran sehen kann, dass er eine Reihe von Gemütsbewegungen etc., die im Markusstoff vorhanden waren, ausgelassen hat (vgl. Mk 1,41 par; 3,5 par; 6,5 f. par). In dieser Hinsicht ist er freilich nicht konsequent gewesen, einige solcher Züge hat er Jesus durchaus belassen (vgl. 9,36; 14,14; 15,32 u. ö.)
Vorbildfunktion
Autoritativer Lehrer
Matthäus betont so die heilsentscheidende Rolle Jesu, der als der von Gott gesandte und bevollmächtigte Lehrer den Willen Gottes autoritativ ausgelegt hat. An der Befolgung dieser Lehre hängt das Schicksal der Menschen. Aber diese besondere Sendung hat Jesus nicht einfach allem Menschlichen enthoben, Jesus blieb versuchbar und hat in Gethsemane das Sich-Einfügen in den von ihm sonst so autoritativ verkündigten Willen Gottes selbst mühsam lernen müssen. Obwohl sich bei Matthäus auch Ansätze einer Herrlichkeitschristologie finden lassen, so hat er doch Jesu Not in Gethsemane über Markus hinaus verstärkt und auch den Verzweiflungsruf des Gekreuzigten aus Markus übernommen und so die Gefahr einer zu starken Betonung der Herrlichkeitschristologie durchaus gebannt.
Das Verständnis Jesu als Gottessohn ist dem Menschen allerdings nicht von sich aus möglich. Jedenfalls hebt Matthäus in 16,17 hervor, dass Petrus die in 16,16 ausgesprochene Erkenntnis nicht aus sich heraus, sondern aufgrund einer Offenbarung hat. Dazu passt, dass die Jünger in 14,33 aufgrund eines erfahrenen Wunders sich zu Jesus als Gottessohn bekennen, während das Bekenntnis Jesu zu seiner Gottessohnschaft vor dem Hohen Rat nur Spott, Verhöhnung und das Todesurteil auslöst.
7.3 Das Gesetz
Von Gott autorisierte Interpretation der Tora
Die These, der historische Jesus habe das alttestamentlich-jüdische Gesetz außer Kraft gesetzt, hat wesentlich in den Antithesen des Matthäusevangeliums ihren Grund. In diesen wird der Gegensatz zum Gesetz schon durch das (variierte) Schema „Ihr habt gehört, dass (den Alten) gesagt worden ist …, ich aber sage euch“ stark hervorgehoben, obwohl eine Außerkraftsetzung des Gesetzes in den Antithesen inhaltlich m. E. bislang noch nicht plausibel nachgewiesen werden konnte. Die aus einer solchen Außerkraftsetzung gezogenen Konsequenzen für die Rolle und das Selbstverständnis Jesu dürften ohnehin kaum zutreffen. Denn im Judentum der damaligen Zeit konnte durchaus als Wille Gottes verstanden werden, was dem Wortlaut des Gesetzes jedenfalls zu widersprechen schien (vgl. K. H. Müller). Ob Matthäus nun die Antithesen und vor allem ihr Schema in Anlehnung an rabbinische Redeweise selbst gebildet oder diese vorgefunden hat, in jedem Falle ist zu berücksichtigen, dass Matthäus diesen einen auf äußerste Weise die Verbindlichkeit des Gesetzes betonenden Text (5,17–20) vorangestellt hat, so dass die Antithesen nur zusammen mit diesem Vorspann interpretiert werden dürfen. Diese Zusammenstellung zeigt aber gerade, dass der Autor unseres Evangeliums keineswegs nur am Gegensatz Jesu zum Gesetz interessiert ist, sondern dass er die gesetzeskritischen Wendungen in den Antithesen als Erfüllung des Gesetzes verstanden wissen will. Jesus bringt nach Matthäus nicht die messianische Tora des Judentums, die es dort als Vorstellung gar nicht gegeben hat, sondern er bringt im Rahmen des damals im Judentum durchaus weiter verbreiteten Ringens um die gültige Interpretation des Willens Gottes die von Gott autorisierte Interpretation der alttestamentlichen Tora. Matthäus geht sogar so weit, die Autorität und Geltung dieser Weisung in der Person Jesu zu verankern – die von Jesus ausgelegte Tora gilt aufgrund seiner Weisung als des von Gott gesandten Erlösers.
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