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Die weiteren Entwicklungen im Westen ließen in der Folgezeit durch die Kontakte orthodoxer Theologen mit westlichen Kollegen wiederum eine neue Situation entstehen, in der sich die oben gezeigten Tendenzen weiter verfestigen. Im Zuge der zunehmenden Konfessionalisierung im Westen sieht sich die östliche Theologie in der Zeit während und nach der Reformation herausgefordert, zu den im Abendland diskutierten Streitfragen ebenfalls Stellung zu beziehen. In ihrem Bemühen, eine eigene konfessionelle Identität herauszubilden, nimmt sie die im Westen aufgekommenen Fragestellungen und Methodik auf und bemüht sich eine eigene Antwort zu formulieren. Dabei versucht sie inhaltlich zumeist eine Mittelstellung zwischen den römisch-katholischen und den protestantischen Standpunkten einzunehmen.
»In der Not, in der er sich befand, sich irgendwie zu der fortlaufenden Debatte zwischen Katholiken und Protestanten verhalten zu müssen, verfasste der Osten in dieser Zeit seine eigenen 'Bekenntnisschriften'. Er übernahm dabei völlig kritiklos die Problematik, die der Westen von der mittelalterlichen Scholastik geerbt hatte, und versuchte, den Protestanten zu antworten, in dem er römisch-katholische Argumente gebrauchte, und umgekehrt .« 51
Beispiele solcher orthodoxer Bekenntnisschriften sind die Werke der von der römisch-katholischen Scholastik beeinflussten Theologen Petrus Mogilas (1596-1647) und Dositheus von Jerusalem (1641-1707). Eher von der protestantischen Theologie beeinflusst zeigen sich hingegen die von Kyrillos Lukaris (1570-1638) und Metrophanes Kritopoulos (1589-1639). 52Diese Schriften bereiten den Weg für einen orthodoxen Konfessionalismus, der die orthodoxe Theologie über Jahrhunderte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollte. 53Eine Reaktion auf diese Form der Theologie manifestierte sich im Russland des 19. Jahrhunderts in der Bewegung der »Slawophilen«, deren bedeutendster Repräsentant der Laientheologe A. Chomjakov ist. Sie versuchte bestehende Polarisierungen in der orthodoxen Theologie zu überwinden und zu einer ursprünglicheren Orthodoxie zurückzufinden. Allerdings geschieht dies um den Preis anderer Polarisierungen vor allem der zwischen Ost und West. 54
4.Ausbildung einer akademischen Theologie
In der Zeit der Übernahme der scholastischen Methodik und der Ausbildung eines orthodoxen Konfessionalismus kommt auch in den Ostkirchen zunehmend die Idee einer »akademischen Theologie« auf. Diese Entwicklung der Theologie zum akademischen Lehrfach hat Florovsky am Beispiel Russlands aufgezeigt und kritisiert. Im 19. Jahrhundert vollzieht sie sich in ähnlicher Weise in Griechenland. Nach der Befreiung Griechenlands von der Türkenherrschaft und der Gründung des neuzeitlichen griechischen Staates wird 1837 die Athener Universität gegründet. Ihre Theologische Fakultät wird exakt nach dem Vorbild deutscher theologischer Fakultäten eingerichtet. 55Auch die zweite große theologische Fakultät Griechenlands in Thessaloniki wurde noch hundert Jahre später mit der gleichen Fächeraufteilung und dem gleichem Studienprogramm errichtet. 56Dass sich bei beiden Fakultätsgründungen weder seitens der Kirchenleitung noch seitens der Theologen Bedenken oder gar Widerspruch gegen die Kopie westlicher Ausbildungsordnungen regte, wird von Yannaras und Zizioulas als Zeichen dafür gewertet, wie stark in jener Zeit die Trennung der Theologie vom Leben der Kirche und die kritiklose Übernahme westlichen Denkens in die orthodoxe Kirche Einzug gehalten hatte.
Dass die universitäre Theologie nach wie vor auf diese – der orthodoxen Theologie eigentlich unangemessene - Weise strukturiert ist, wird denn auch als wesentlicher Grund dafür gesehen, dass die »babylonische Gefangenschaft« der orthodoxen Theologie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein noch nicht überwunden ist. Spezialisierung und Konfessionalismus nennt Zizioulas noch 1980 als die beiden größten Probleme der orthodoxen theologischen Fakultäten. 57Aus der »theologia« der Kirchenväter ist eine akademische Disziplin geworden, deren »Ort« nicht das Leben der Menschen, sondern die Universität ist. Theologie wird zur Wissenschaft, die zergliedert ist in Disziplinen wie Dogmatik, Exegese, Historische Theologie und Moraltheologie. Diese werden von hochspezialisierten Fachvertretern gelehrt, die oft kaum die anderen theologischen Disziplinen, geschweige denn andere Wissenschaften im Blick haben.
Als Musterbeispiele einer so geprägten orthodoxen Theologie gelten die dogmatischen Handbücher von Christos Androutsos und Panagiotis Trembelas, die noch lange Zeit als Standardwerke galten. Für Yannaras ist Androutsos die »Inkarnation aller möglicher westlicher Einflüsse«. 58Die vernichtende Kritik der Generation der 60er Jahre an den Werken von Androutsos und Trembelas erstreckt sich auf inhaltliche wie auf methodische Punkte, auf Einzelfragen wie auf Grundannahmen. Glaube werde, so der grundlegende Vorwurf von Yannaras, Zizioulas und anderen, einseitig als »intellektueller Prozess« betrachtet. Ein solches Denken gehe davon aus, der durch die Gnade erleuchtete Verstand des Menschen sei in der Lage, die von Gott offenbarte Wahrheit in den tradierten Formeln und Dogmen einzusehen und anzunehmen. Die Akzeptanz bestimmter Prämissen führe zur Akzeptanz der einzelnen Glaubenssätze. In einem Prozess der »Subskription« werde diese von der Zeit der Apostel an über die Konzilien festgelegte und tradierte Lehre von Generation zu Generation übernommen. Der Theologie falle dann die Aufgabe zu, die Voraussetzungen zu systematisieren. Dabei komme der exakten Formulierung sehr große Bedeutung zu, die geistliche Erfahrung spiele hingegen kaum eine Rolle. In einer solchen als »rationalistisch« verurteilten Glaubensauffassung, die mit einem Defizit an Erfahrung einhergehe 59, bündeln sich nach Yannaras, Nellas und Zizioulas alle negativen Entwicklungen der neuzeitlichen orthodoxen Theologie. In ähnlicher Weise lassen sie sich an jeder theologischen Einzelfrage aufzeigen 60und jeweils auf dieselben theologischen Defizite zurückführen. Yannaras beklagt zudem den Mangel an Dialog- und Kritikfähigkeit in der wissenschaftlichen Theologie Griechenlands und das Fehlen einer entsprechenden Diskussionskultur, etwa in der Form wissenschaftlicher theologischer Zeitschriften. 61
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Nach dem Urteil der Theologengeneration der 60er Jahre ist die Situation der orthodoxen Theologie Griechenlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet durch die Isolation einer spezialisierten und konfessionalistischen akademischen Theologie,
•die sich in Einzelfragen verliert,
•die kaum Bezug zu den existentiellen Lebensfragen heutiger Menschen hat,
•die jeden lebendigen Bezug zu ihrer eigenen patristischen Tradition verloren hat,
•weil sie sich in der Übernahme fremder Fragestellungen und Methoden
•vom Leben und der mystischen Erfahrung der Kirche getrennt hat
•und so die ursprüngliche organische Einheit von Liturgie und Theologie aufgegeben hat,
wodurch die Einheit von lex orandi und lex credendi nicht mehr gewahrt ist. 62
III.Die Zoi-Bewegung
1.Geschichte
Von weitreichender Bedeutung für die Veränderungen in der griechischen Theologie und Kirche des 20. Jahrhunderts war die Zoi-Bewegung. Panagiotis Bratsiotis bezeichnet sie im Jahr 1960 als »die wichtigste religiöse Bewegung in der Autokephalen Kirche Griechenlands – und vielleicht der Orthodoxen Kirche überhaupt« 63. Obwohl ihre Mitglieder kaum direkt in der universitären Theologie in Erscheinung treten und »trotz ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem akademischen Leben hat … [sie] in einem allgemeineren Sinn auf die gesamte theologische Mentalität und das Leben in Griechenland einen tiefen Einfluss ausgeübt.« 64Das Spektrum der Einschätzungen dieser umstrittenen Bewegung zeigen die Bezeichnungen, mit denen sie versehen wird. Sie reichen von solch positiven Einschätzungen wie »neugriechische Erneuerungsbewegung« (Maczewski) über ein relativ neutrales »eine neugriechische pietistische Bewegung« bis hin zu »eine Häresie im Bereich der Ekklesiologie« (Yannaras) oder »religiöses Pfadfindertum« (Tsakonas).
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