Die Veränderungen in der Methodik zeigt auch ein Blick in die Bibliographien der theologischen Abhandlungen. Diejenigen Kirchenväter, deren Texte jetzt die Grundlage für neuere Ansätze bilden, wurden zuvor in der Tradition der »akademischen« dogmatischen Handbücher kaum zitiert. So erleben die Schriften von Pseudo-Dionysios Areopagita, Johannes Climacus, Maximus Confessor, Symeon dem Neuen Theologen u.a. eine wahre Renaissance. Textsammlungen aus der geistlichen Tradition wie die Philokalie oder die Apophthegmata Patrum rücken wieder in das Zentrum des Interesses und werden Gegenstand theologischer Wissenschaft. Eines der eindrücklichsten und bekanntesten Beispiele für diese Veränderung in der theologischen Methodik ist die zum Klassiker gewordene »Theologie der morgenländischen Kirche« von Vladimir Lossky, die das »in unserem Sinne 'theologische' Problem, die Frage der Gotteserkenntnis, anhand der Schriften vorwiegend asketischer Schriftsteller behandelt«. 120Wie noch zu zeigen ist, hat dieses Buch zudem auch einen wichtigen Beitrag zur erkenntnistheoretischen Reflexion des erwähnten Paradigmenwechsels geleistet.
Auch die Themen der frühen Arbeiten, (z.B. der Dissertationen) von Nellas, Yannaras und Zizioulas zeigen dieselbe Tendenz, sich solchen Theologen zuzuwenden, die zuvor kaum Beachtung gefunden haben: Zizioulas arbeitet über Maximus Confessor, Nellas über Nikolaos Kabasilas und Yannaras über Pseudo-Dionysios Areopagita.
III.Themenfelder orthodoxer Theologie des 20. Jahrhunderts
Neuerungen auf der Ebene der Methodologie stehen in Wechselbeziehung zu veränderten Inhalten, denen sich die Theologen der Neopatristischen Synthese zuwenden. An den Themenfeldern, die in der neueren orthodoxen Theologie dominieren, zeigen sich die Einflüsse der westlichen Theologie ebenso wie die Notwendigkeit, die methodische Neuorientierung weiter theologisch zu reflektieren und schließlich auch die Themen, die in den Texten der Kirchenväter und der geistlichen und liturgischen Tradition behandelt werden. Das Bemühen, die existentiellen Fragen des heutigen Menschen ernst zu nehmen und der modernen Welt vorurteilsfrei und offen zu begegnen hatte zusammen mit der grundsätzlichen methodischen Neuorientierung zur Folge, dass man sich in systematischen Arbeiten vor allem den großen, grundsätzlichen Themen zuwandte. Hier versuchte man, die zentralen Gedanken der Theologie der Kirchenväter neu herauszuarbeiten, um so wieder zu einer ursprünglicheren, »eigentlich orthodoxen« Theologie zu gelangen. 121Wenn im Folgenden einige dieser Themenfelder, die in der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts diskutiert werden, kurz skizziert werden, so geschieht dies nicht nur, um deutlich zu machen, in welchem theologischen Umfeld die Entwürfe von Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas entstanden sind. Es werden darüber hinaus bereits hier einige Grundzüge orthodoxer Theologie erkennbar, die oft als »typisch« oder unterscheidend orthodox charakterisiert werden. 122
Ein wichtiges Themenfeld in der neueren orthodoxen Theologie ist die Pneumatologie. In der Thematik des »Filioque« (der trinitätstheologischen Frage nach dem Hervorgang des Heiligen Geistes aus Vater und Sohn bzw. nur aus dem Vater) bildet sie den traditionellen Konfliktpunkt zwischen der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche, der im unterschiedlichen Trinitätsverständnis in der Ost- und der Westkirche begründet liegt. Im 20. Jahrhundert erfährt die Pneumatologie aber nicht nur als kontroverstheologischer Streitpunkt Aufmerksamkeit, auch wenn durch die Ökumenische Bewegung auch diese konfessionellen Unterschiede den orthodoxen Theologen erneute Auseinandersetzungen und Stellungnahmen abfordern. Vielmehr sind es Entwicklungen innerhalb der westlichen Theologie des 20. Jahrhunderts, die den energischen Widerspruch orthodoxer Theologen hervorrufen. Insbesondere dem protestantischen Theologen Karl Barth wird von orthodoxen Theologen der Vorwurf gemacht, er errichte seine Theologie auf einer exklusiv christologischen Basis. Scharfe Kritik an seinem und an ähnlich gelagerten Entwürfen westlicher Theologie üben die orthodoxen Theologen Vladimir Lossky und Nikos Nissiotis. Es ist vor allem der russische (Exil-)Theologe Vladimir Lossky (1903-1958), der der westlichen Theologie »Geistvergessenheit« vorwarf. 123Der Grieche Nikos Nissiotis (1924-1986) greift die Kritik Losskys auf, führt sie weiter und prägt den Begriff des »Christomonismus« der Westkirche. Aus dem gleichen Grund, dass nämlich der Pneumatologie nicht die ihr zukommende Rolle eingeräumt werde, äußern orthodoxe Theologen auch Kritik am Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanums. Dort werde die Kirche zunächst christologisch hergeleitet und erst »danach«, sekundär, in pneumatologischer Hinsicht betrachtet. Gegenüber solchen westlichen Tendenzen fordern orthodoxe Theologen, die Pneumatologie müsse eine konstitutive Rolle innerhalb der Systematischen Theologie spielen. Sie dürfe nicht nur in Abhängigkeit von der Christologie gedacht werden. Lossky spricht sogar von einer speziellen »Ökonomie des Heiligen Geistes« neben der »Ökonomie des Sohnes«. Zizioulas bezeichnet Entwürfe dieser zugespitzten Ausprägung als »Extrempositionen« in der orthodoxen Theologie. In einer präziseren Herausarbeitung der Funktion der Pneumatologie und in der theologischen Verhältnisbestimmung zwischen der christologischen und der pneumatologischen Dimension sieht er ein wichtiges Desiderat der neueren orthodoxen Theologie. 124Zizioulas hat sich dieser Aufgabe selbst in einigen seiner Arbeiten gewidmet. Die Verhältnisbestimmung zwischen Pneumatologie, Christologie und Ekklesiologie ist in seiner Theologie zentral. 125
Aufgrund der konstitutiven Rolle, die der Pneumatologie innerhalb der orthodoxen Theologie zukommt und ohne die auch das Konzept einer Neopatristischen Synthese nicht zu denken ist, ist sie von zentraler Bedeutung quer durch alle theologischen Traktate hindurch. Für eine orthodoxe theologische Anthropologie ist sie besonders im Blick auf die Ekklesiologie und die Sakramententheologie relevant, die geradezu als »Entfaltung« einer orthodoxen theologischen Anthropologie betrachtet werden kann.
Die geforderte konstitutive Rolle der Pneumatologie innerhalb der Theologie wird deutlich in einem weiteren wichtigen Themengebiet der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts, der Ekklesiologie. Zizioulas bezeichnet sie sogar als » das theologische Thema unseres Jahrhunderts«. 126Dass die Ekklesiologie in einer Theologie, die sich so stark ihrer kirchlichen Tradition und Verortung bewusst ist, eine wichtige Rolle spielt, ist zunächst nicht ungewöhnlich. Neu von der Pneumatologie und deren zentraler Bedeutung für die Ekklesiologie her bedacht wurde die Ekklesiologie bereits in der russischen Theologie des 19. Jahrhunderts von Chomjakov und der Bewegung der Slawophilen. Unter dem Begriff der »Sobornost«, kennzeichnete sie eine eigene Strömung innerhalb der russischen Theologie, die jedoch schon bald innerhalb der orthodoxen Theologie (u.a. von Florovsky) heftig kritisiert wurde. 127Diskutiert wird in der neueren orthodoxen Theologie im Anschluss an die von Chomjakov angeregte Debatte vor allem das Verständnis der Katholizität der Kirche und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche sowie das Verhältnis von Eucharistie und Kirche.
Das Verhältnis von Eucharistie und Kirche steht im Zentrum der Eucharistischen Ekklesiologie, die im 20. Jahrhundert von orthodoxen Theologen entfaltet wurde. Sie versteht Kirche zuallererst als eucharistische Gemeinschaft. Wenn sich die Kirche an einem Ort versammelt, um Eucharistie zu feiern, um durch den Empfang des Leibes Christi selbst zum Leib Christi zu werden, dann entsteht Kirche. 128Diese Eucharistische Ekklesiologie stützt sich auf eine lange biblische (vor allem 1 Kor 10,16f.) und patristische Tradition. Für ihre moderne Ausprägung steht zuerst der russische Theologe Nikolaj Afanas'ev (1893-1966). In der zur Eucharistie versammelten konkreten Einzelgemeinde sah er die katholische Kirche in ihrer Vollgestalt verwirklicht. Entscheidende Korrekturen erhielt die Eucharistische Ekklesiologie durch Alexander Schmemann und Joannis Zizioulas. Der lange Zeit in Amerika lehrende russische Theologe Alexander Schmemann gab der neueren orthodoxen Theologie durch seine Arbeiten auch in einem weiteren wichtigen Themenfeld, der Liturgie, wichtige Impulse. Auch Nellas, Yannaras und Zizioulas verdanken ihm wichtige Anstöße. Eng mit der Ekklesiologie und dem Liturgieverständnis verknüpft sind zudem weitere Fragen der Sakramententheologie und Amtstheologie, die durch den Ökumenischen Dialog neue Dringlichkeit erfahren.
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