Seinen Lösungsvorschlag für die so hart analysierten Probleme hatte Florovsky ebenfalls bereits bei dem erwähnten Athener Kongress 1936 vorgetragen. In seinem zweiten Vortrag bei diesem Kongress »Patristics and Modern Theology« 109präzisierte er sie und entfaltete sie in vielen seiner späteren Schriften weiter. Es ist das Programm einer »Neopatristischen Synthese«. Die Grundlinien dieses Programms übernehmen sowohl Panagiotis Nellas als auch Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas von Georges Florovsky. 110Allerdings ist die Neopatristische Synthese, wie sie Florovsky entwirft, kein fertiges geschlossenes System, sondern eher eine Zielbestimmung. Angesichts der Übergangssituation, in der sich die orthodoxe Theologie befand, und um dieser Übergangssituation gerecht zu werden, sagt Florovsky noch 1963 relativierend: »Man könnte das Ziel als 'Neopatristische Synthese' bezeichnen.« 111Was bedeutet 'Neopatristische Synthese'? Die Konsequenz aus der Analyse der Missstände in der orthodoxen Theologie liegt für Florovsky klar auf der Hand:
»Die westlichen Einflüsse … müssen überwunden werden . Vor allem gilt dies für den unorganischen westlichen Stil … Doch kann endgültig die orthodoxe Theologie ihre Unabhängigkeit von den westlichen Einflüssen nur durch ihre geistige Rückkehr zu den väterlichen Quellen und Grundlagen wiederherstellen«, die die Kirche in ihrer liturgischen Praxis auch durch die ‚babylonische Gefangenschaft' hindurch bewahrt hat.« 112
Das Programm einer Rückkehr zu den Quellen und der erneuten Hinwendung zu den Vätern kann jedoch in zwei Richtungen missverstanden werden. Weder kann die Tatsache, dass die Väterzeit als interessanter Forschungsgegenstand erscheint, hinreichender Grund für die Beschäftigung mit einer längst vergangenen Epoche sein, noch kann es darum gehen, die Zeit der Kirchenväter idealisiert als verlorenes Paradies zu betrachten, das es wiederherzustellen gilt. In beiden Fällen wäre der Umgang mit den Kirchenvätern rein statisch und damit museal. Das Spezifikum der griechischen patristischen Theologie sieht Florovsky - und sehen mit ihm seine griechischen Schüler - jedoch in der existentiellen Relevanz ihrer Theologie für Menschen jeder Epoche. Diese zeichnet das Denken der Kirchenväter aufgrund seiner durchgängigen soteriologischen Ausrichtung aus, welche geradezu als ein Charakteristikum orthodoxer Theologie gelten kann. »Zu den Vätern zurückkehren, heißt jedoch nicht, aus der Gegenwart oder aus der Geschichte verschwinden, vom Schlachtfelde abtreten. Es gilt vielmehr, nicht nur die heilige väterliche Erfahrung zu bewahren und zu beschützen, sondern sie auch aufzudecken, von ihr aus ins Leben zu treten.« 113
In der neopatristischen Synthese geht es folglich nicht darum, Vätertheologie zu wiederholen, sondern die bleibende Wahrheit der christlichen Botschaft in jeder Zeit und für jede Zeit je neu zu formulieren. Es bedarf eines kreativen Prozesses, einer neo -patristischen Syn -These, die je neu in der ungebrochenen Tradition der Kirche erfolgt. Ihr theologischer Ausgangspunkt und ihr Kriterium ist das »Leben in Christus«, wie es sich in und durch die Kirche mitteilt. Das »Kriterium neopatristischer Theologie ist die Katholizität der Kirche«. 114Insofern impliziert die Rückkehr zu den Vätern Kirchlichkeit. Es darf den Theologen »nicht so sehr [darum gehen,] ihre eigenen Ideen oder Sichtweisen zu entwickeln, sondern nur Zeugnis abzulegen für den unbefleckten Glauben von Mutter Kirche.« 115
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es für Florovsky und in seinem Gefolge auch für seine Schüler von so entscheidender Bedeutung ist, dass trotz aller Fehlentwicklungen in der neuzeitlichen orthodoxen Theologie die spirituelle und liturgische Tradition ungebrochen blieb. Zugleich erhellt daraus auch, warum es aus der Sicht der Theologen der neopatristischen Synthese so dringend notwendig ist, die falsche Trennung zwischen wissenschaftlicher Theologie und dem Leben der Kirche zu überwinden und ihre Einheit wiederherzustellen. Diese Einheit von Theologie und Leben der Kirche ist der Ermöglichungsgrund für eine kreative Rückkehr zu den Vätern. Sie allein kann die Kontinuität in der Wahrheit wahren und damit gewährleisten, dass die Kirche nicht von der Wahrheit der Orthodoxie abweicht. Die Übereinstimmung mit der Tradition der Kirche ist deshalb auch das Kriterium für die Unterscheidung der Geister im Umgang mit den Herausforderungen der eigenen Zeit, z.B. beim Prüfen moderner Philosophie. 116
»Nicht darin liegt die Überwindung des westlichen Ärgernisses für die orthodoxe Theologie, dass man die westlichen Ergebnisse ablehnt oder gar umstößt, sondern darin, dass man sie überwindet und in neuer schöpferischer Tätigkeit übertrifft. Nur die schöpferische Rückkehr zu den eigenen und alten Tiefen wird für den orthodoxen Gedanken selbst ein echtes 'Gegengift' gegen die offenen und verborgenen oder noch gar nicht erkannten sogenannten 'westlichen Vergiftungen' sein. Die orthodoxe Theologie ist berufen, auf die westlichen Fragen aus den Tiefen ihrer ununterbrochenen Erfahrungen zu antworten und den Schwankungen des westlichen Gedankens die unveränderliche Wahrheit der väterlichen Orthodoxie gegenüberzustellen« 117
Als beispielhaft für eine solche Synthese gelten die griechischen Kirchenväter. Ihnen ist es gelungen, die biblische Botschaft in ihrer existentiellen Bedeutung für das Leben des Menschen vor der Herausforderung und in den Begriffen der hellenistischen Philosophie auszudrücken. Hierfür hat Florovsky den Begriff des »Christlichen Hellenismus« geprägt, den er bereits beim Ersten Theologischen Kongress 1936 ins Gespräch brachte. Sein Vortrag »Patristics and Modern Theology« mündet deshalb in den Appell: »Laßt uns griechischer sein, um wirklich katholisch, um wirklich orthodox zu sein.« 118In der Rezeption der Neopatristischen Synthese in Griechenland, vor allem auch in der Theologie von Ioannis Zizioulas, wird der Begriff des »Christlichen Hellenismus« weiter ausgearbeitet und erhält besonderes Gewicht. Allerdings bot er sich auf dem Hintergrund der speziellen Beziehung von religiöser und nationaler Identität in Griechenland geradezu dazu an, um missverstanden, politisch ausgeschlachtet und missbraucht zu werden.
Die von Florovsky und anderen auf den Weg gebrachten Veränderungen wurden in der Folgezeit von so vielen orthodoxen Theologen und so weitgehend rezipiert, dass ihre Schwerpunkte inhaltlicher wie methodologischer Art heute weitgehend als Charakteristika »typisch orthodoxer« Theologie gelten.
II.Methodische Konsequenzen
Die von Florovsky und anderen erhobene Forderung nach einer Rückkehr zu den Vätern in der Form einer »neopatristischen Synthese« zieht entscheidende Konsequenzen auf der methodischen Ebene nach sich. Quellen und Grundlage des Theologietreibens sind nun nicht mehr nur wissenschaftliche theologische Abhandlungen. Vielmehr werden in Übereinstimmung mit dem Theologieverständnis der Väter auch Liturgie und liturgische Texte als Quelle für die und als Gegenstand der Theologie wiederentdeckt. Gleiches gilt für andere Texte der geistlichen Tradition. 119
In der bis dahin vorherrschenden akademischen Tradition wäre es nicht denkbar gewesen, liturgische Texte als Basis einer systematisch-theologischen Abhandlung heranzuziehen. Dass heute eine maßgebliche Richtung innerhalb der gegenwärtigen orthodoxen Theologie sich als »Eucharistische Theologie« versteht, markiert deutlich den erfolgten Paradigmenwechsel. Von einem Unterkapitel der Sakramentenlehre, das vielleicht darüber hinaus noch innerhalb der praktischen Theologie behandelt wird, wird die eucharistische Erfahrung zum Kristallisationspunkt für Ekklesiologie, Christologie und Trinitätslehre. Liturgie wird zum integralen Bestandteil der Theologie, dem entscheidender Erkenntniswert für dogmatische Aussagen zukommt. Analoges gilt für die Ikonen als Ausdruck geistlicher Erfahrung. In der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhundert wird eine Ikonentheologie entwickelt, die der Aussage der Ikone einen dogmatisch relevanten Rang zuerkennt.
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