Als schliesslich Nachbarschaften und Gerichtsgemeinden aller drei Bünde im 17. und 18. Jahrhundert dazu übergingen, gar keine Hintersassen als voll partizipationsberechtigte Nachbarn und Gemeindegenossen mehr aufzunehmen, spielten interne Hierarchisierungsmechanismen auf höherer Stufe eine Rolle: Oft wurden diese Verbote von der einheimischen Führungsschicht veranlasst, um auswärtigen Aristokratenfamilien eine mögliche Wahl in die hohen Ämter der Untertanenlande zu verunmöglichen. 73Der strikte Abschluss der Partizipationsberechtigten im Innern dürfte damit – auch wegen der stagnierenden Bevölkerungszahl – weniger auf akute wirtschaftliche Gründe zurückzuführen gewesen sein.
Kommunalismus und Altrepublikanismus
Wie lassen sich nun die frühmodemen Nachbarschaften als Teil einer altrepublikanischen Organisationsform beschreiben? Der klassische Republikanismus umreisst den Staat seit Aristoteles als Ideal einer sich selbst regierenden Gemeinschaft wirtschaftlich unabhängiger und wehrhafter «Bürger». 74Der Staat ist in dieser seit der Renaissance weiterentwickelten Theorie ein freiwilliger und willentlicher Zusammenschluss von Menschen, in denen die Gesetze den Willen der Gesamtheit ausdrücken (Rousseaus volonté générale) und gleichzeitig auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. 75Altrepublikanisch an der Bündner «Gemeinderepublik» (Jon Mathieu) ist für Blickle, «dass die Gesetze von Bürgern im staatsrechtlichen Sinne gemacht werden, gleichgültig, ob sie Städter oder Bauern sind und die Zwecksetzung des politischen Verbandes wegen der Rechtsgleichheit der Bürger auf gar nichts anderes als das Gemeinwohl gerichtet sein kann». 76
Ich will hier nicht auf die im Freistaat verhandelte Deutung des mit dem Republik-Begriff verbundenen Gemeindesouveränitätskonzepts eingehen. 77Viel wichtiger scheint mir festzustellen, dass von einer altrepublikanischen Staatsform im Freistaat der Drei Bünde nur unter der Voraussetzung der kommunalistischen Bewegung gesprochen werden kann. 78Der Kommunalismus begründete die Vorstellung souveräner Gemeinden, die zur heute immer noch bestehenden Gemeindeautonomie führte. 79Aus diesem Grund gilt der Kanton Graubünden seit der Kantonsverfassung von 1854 mit seiner Kombination aus freistaatlichem und modernem Recht (siehe Kapitel 2.3) als «atypischer Bundesstaat mit Gemeindestaatlichkeit». 80Kommunalismus beziehungsweise die daraus entstandene moderne Gemeindeautonomie wurde demnach im Kontext der Bündner Gemeindegeschichte zur umfassenden politischen Organisationsform, an der die Schweizer Niedergelassenen seit dem kantonalen Niederlassungsgesetz 1874 weitestgehend auch partizipieren.
Hingegen blieben von den durch den Kommunalismus ermöglichten Rechtsprivilegien der Gemeindebürger nach 1874 nur noch wenige übrig. Die Partizipationsberechtigung ist heute weitgehend nach modernen republikanischen Prinzipien organisiert, da bis auf die wenigen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger alle Schweizer daran teilhaben.
Meines Erachtens ist es daher sinnvoll, analytisch diese beiden Aspekte frühneuzeitlicher Demokratie auseinanderzuhalten, da es in der Geschichte der Bürgergemeinden in erster Linie nur darum geht, wer in den Gemeinden welche Partizipations- und Nutzungsberechtigungen hatte, und nicht, wie unabhängig die Gemeinden vom modernen Kanton waren. Gerade weil die Verfechter der Privilegien der Gemeindebürger im Laufe der Zeit mit der Gemeindeautonomie argumentiert haben und dieses Fahnenwort nicht für die altrepublikanischen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger reserviert war und ist, müssen beide Aspekte klar getrennt weden. Ich werde deshalb überall da, wo es um die innere Gemeindestruktur, das heisst um die den Gemeindebürgern verbliebenen Wahl-, Stimm- und Nutzungsrechte geht, von altrepublikanischen Rechtsprivilegien beziehungsweise altrepublikanischen Korporationen sprechen. Dagegen wird überall da von Gemeindeautonomie die Rede sein, wo im 19. und 20. Jahrhundert in Graubünden das altrepublikanische Prinzip der mit eigenen Rechtssetzungs- und Verwaltungskompetenzen ausgestatteten Gemeinden verhandelt wurde. 81Als Relikte des altrepublikanischen Freistaats der Drei Bünde standen beide in einem mehr oder weniger starken Gegensatz zum modernen Republikanismus, wie er nach der Helvetik nach und nach in Graubünden einzog.
Ein kurzer Blick auf die Mediationsverfassung von 1803 und die Entwicklung bis in die 1830er-Jahre soll abschliessend verdeutlichen, dass es ausschliesslich Fragen der Gemeindeautonomie waren, die bis um 1850 im modernen Kanton Graubünden in Konkurrenz mit dem neuen Republikverständnis der Aufklärung gerieten. Dringend war das Problem, wie der Kanton angesichts eines Flickenteppichs ehemals weitgehend souveräner Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften seine öffentlichen Aufgaben bewältigen sollte. Die Frage, ob alle Schweizer auf Kantonsund Gemeindeebene politisch-wirtschaftlich gleichberechtigt sein sollten, wurde erst nach 1850 brisant.
2.3 Die alte Gemeindeautonomie gegen den modernen Kanton
Nach der Französischen Revolution regte sich breiter Widerstand gegen die Staats- und Sozialstrukturen des Freistaats. In aufgeklärten Schulanstalten wie dem Reichenauer Seminar wurden Kant und Voltaire rezipiert. Das Ziel war, die von Partikularinteressen geprägte Politik des Freistaats zu überwinden. Neu im Bündner Kontext war vor allem, dass aufgeklärte Aristokraten wie Johann Baptist von Tscharner und der aus Magdeburg stammende Heinrich Zschokke Freiheit und Rechte nicht Körperschaften wie den Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften, sondern dem einzelnen Individuum zuschrieben. 82Damit fanden die Konturen einer individualistisch-kapitalistischen Erwerbsgesellschaft mit ihrer scharfen Trennung von Staat und Gesellschaft zum ersten Mal Eingang in Graubünden. 83
Im Frühling 1798 war der Freistaat zwischen frankreichfreundlichen Patrioten und proösterreichischen Aristokraten gespalten, wobei Letztere von katholischen Kreisen unterstützt wurden, die eine strikte Trennung von Kirche und Staat befürchteten. 84Erst nachdem nacheinander die Österreicher und die Franzosen den Freistaat besetzt hatten, sprach sich eine Mehrheit der Gerichtsgemeinden für eine sofortige Vereinigung mit der Helvetischen Republik aus, die noch 1799 vollzogen wurde. 85In Absprache mit Österreich leistete die katholische Gerichtsgemeinde Disentis in der oberen Surselva den Franzosen erbitterten Widerstand: Im Mai 1799 endete diese Gegenwehr in einer Schlacht mit über 650 Toten aufseiten der Einheimischen. 86
Die von Napoleon 1801 ausgearbeitete Verfassung konstituierte für den Kanton Rätien ein neues, modernes Republikverständnis: Der Kanton wurde zum «einen und unteilbaren» Einheitsstaat. 87Es galt das Prinzip der Volkssouveränität, je 500 Bürger konnten einen Kantonsrat wählen. Mit der fünfköpfigen Kantonsverwaltung übte er die staatliche Macht aus. Es bestand ein egalitäres Wahlrecht auf allen Stufen des Staatsaufbaus: Die Helvetische Republik schuf zum ersten Mal eine Politische Gemeinde, welche die seit mindestens fünf Jahren ortsanwesenden männlichen Erwachsenen als Schweizer Bürger anerkannte. Ausserdem wurde etwa im Unterengadin das Hintersassengeld abgeschafft. 88Da die bisherigen Partizipationsberechtigten weiterhin – zumindest de jure – alleine Wälder, Alpen und Weiden nutzen durften, entstand eine erste Form von Gemeindedualismus. 89
Die kurze Zeit der Helvetik wird heute allgemein als wichtiger Schritt auf dem Weg in den modernen Kanton Graubünden bewertet, vor allem wurden «gerade im rechtstaatlichen Bereich viele Grundlagen gelegt». 90Napoleons Mediationsverfassung von 1803 war ein Kompromiss aus der alten Landeseinteilung in Gerichtsgemeinden und einer ständigen Landesbehörde. Diese Landesbehörde bestand aus einem 63-köpfigen Grossen und einem dreiköpfigen Kleinen Rat mitsamt einer ab 1807 dazwischen agierenden Standeskommission. Neu war, dass diese übergeordneten Behörden anders als im alten Freistaat von sich aus tätig werden konnten, sodass de facto «Bünden erstmals regiert wurde». 91In sogenannten Landespolizeiangelegenheiten konnte der Grosse Rat sogar neue Bestimmungen verabschieden, ohne sie dem Volk vorzulegen. 92
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