Für die Zugehörigkeit zur politisch-sozialen Einheit der Nachbarschaft bestanden zumindest einige Minimalvoraussetzungen, darunter Waffenfähigkeit und eine wirtschaftlich wie politisch unabhängige Existenz. 44Für den Freistaat der Drei Bünde heisst das: «Bürger im eigentlichen Sinn waren die Haushaltsvorstände männlichen Geschlechts, welche sich in vollem Besitz ihrer Fähigkeiten und Güter befanden.» 45In der Tat dürften die Fälle zahlreich gewesen sein, in denen man den Ausschluss der Hintersassen mit wirtschaftlicher Unselbstständigkeit erklären könnte, da sie ihr Auskommen als Taglöhner, Hirten, Krämer und Kleinstbauern suchten. Für das Unterengadin hält Mathieu fest: «Viele Hintersässen besassen vermutlich so gut wie gar nichts.» 46Auch in Chur bildeten die Taglöhner, meist Rebknechte, die grösste Gruppe der Hintersassen. 47Maissen argumentiert ähnlich, indem er die militärische Diensttauglichkeit als Kriterium für politische Partizipation damit erklärt, dass Graubünden als armes Land seinen bescheidenen Reichtum dem Solddienst verdankte. 48Im Laufe der Frühen Neuzeit lässt sich beobachten, wie mit der kommunalistischen Entwicklung in den Nachbarschaften auch die Abgrenzung gegenüber den Hintersassen an Bedeutung gewann.
Die Nachbarschaften befassten sich in der Frühen Neuzeit nicht mehr nur mit der Nutzung von Weiden, Wald, Wasser und Alpen oder dem Gemeinwerk. 49Ab dem 16. Jahrhundert eigneten sich diese lokalen Verbände mancherorts die lokale Zivilgerichtsbarkeit an, dies namentlich im Engadin, im oberen Albulatal, in der Val Müstair und in Brusio. 50In italienischsprachigen Südtälern wie dem Bergell wurde zudem das Wahlverfahren für die Gerichtsgemeinden in die Nachbarschaften verlagert. Eine eigentliche Landsgemeinde gab es in diesen Regionen nicht mehr, die verschiedenen Nachbarschaften schickten lediglich Wahlmänner für die Bestimmung des podestà, im Falle des Bergells nach Vicosoprano. 51Gerichtsgemeinden wie das Oberengadin, Bivio/Marmorera, St. Peter (Schanfigg) oder die zu Hochgerichten zusammengefassten Gerichtsgemeinden des Prättigaus übertrugen den Nachbarschaften Aufgaben wie den Strassenbau und -unterhalt. 52Gegen aussen wurden die territorialen Grenzen der Nachbarschaften anlässlich von Konflikten um Weiden und Wälder festgelegt, so in der Domleschger Gerichtsgemeinde Ortenstein. Aufgrund des «Streben[s] nach lokaler Aufwertung» vervielfachte sich die Zahl der Marktorte zwischen 1500 und 1790 um den Faktor fünf, ohne dass die Bevölkerung oder das Absatzvolumen anstiegen. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Kirchgemeinden von 100 auf 200. 53
Diesbezüglich zeigt sich ein weiterer Unterschied zur oberen und mittleren Surselva, wo die Gemeinden teilweise bis heute überdurchschnittlich gross sind, weil sie eine Reihe von Dörfern umfassen: Der politische Partikularismus auf Ebene der Nachbarschaften bildete sich in Nordwestbünden in vormoderner Zeit merklich schwächer aus. Man delegierte das Zivilgericht nicht an die Nachbarschaften, auch die grosse Landsgemeinde blieb erhalten. Die Vertreter der Gerichtsgemeinden wurden weiterhin an den grossen Talversammlungen gewählt, nicht in den einzelnen Nachbarschaften. 54
Innerhalb der Nachbarschaften wurden die Gemeindeordnungen ausgebaut. Die Stadt Chur hatte bereits seit 1465 eine Zunftordnung. Die Nachbarschaften arbeiteten zudem Bussenkataloge aus und erfanden immer neue Gemeindeämter, die von Alpmeister über Wahlmänner bis zum Marksteinsetzer und Hilfsflurhüter reichen konnten. Die Unterengadiner Nachbarschaft Ftan kannte so 1773 insgesamt 25 Amtsinhaber auf ungefähr 100 politisch berechtigte Männer. 55Diese Inflation von Titeln und Titelträgern auf der Ebene der Nachbarschaft ist nur ein Beispiel einer vermehrten öffentlichen Betonung von Statusunterschieden. 56Da sich die Nachbarschaften für die kommunalen Rechte und Pflichten wie politische Partizipation, Nutzung von Holz und Gemeindeland, Gemeinwerk oder Militärdienst auf den Haushalt stützten, wuchs die Autorität des Haushaltsvorstands. Es galt das Senioritätsprinzip, das zwischen privilegierten Alten und untergeordneten Jungen unterschied. 57
Mit dem Ausbau und der Abgrenzung der Nachbarschaften bildeten sich also auch gesellschaftliche Kontrollen und Hierarchien stärker aus. 58Diese verstärkten Hierarchisierungen und Reglementierungen blieben im 17. und 18. Jahrhundert nicht ohne Wirkung auf die rechtliche Exklusion der Hintersassen. 59Das Senioritätsprinzip wies auf Gemeindeebene auch den später gekommenen «Fremden» einen sekundären Platz zu. 60Ihre amtliche Erfassung und Kontrolle war wahrscheinlich in der Stadt Chur am markantesten ausgeprägt, wo man durch Quartiereinteilungen, besondere Reglemente und Kontrollpersonal versuchte, der steigenden Anzahl Herr zu werden. 61Versucht man die Exklusion der Hintersassen in den einzelnen Nachbarschaften zu vergleichen, stösst man innerhalb des rätoromanischen Sprachgebiets auf eine deutliche Tendenz: Rechte und Pflichten wurden in jenen reformierten Gebieten reglementiert, in denen sich auch auf dem Gebiet der Zivilgerichtsbarkeit ein nachbarschaftlicher Partikularismus ausbildete. Das Dicziunari Rumantsch Grischun führt für die Zeit vor 1800 insgesamt 64 Beispiele reglementierender Vorschriften für die Hintersassen auf. Davon stammen 53 aus dem Engadin (ohne das katholische Tarasp), sieben aus dem angrenzenden, reformierten Teil des Albulatals und der reformierten Val Müstair und lediglich vier aus dem restlichen, vorwiegend katholisch-rätoromanischen Sprachgebiet: drei aus dem reformierten Sevgein (mittlere Surselva) und ein Beispiel aus dem reformierten Schamsertal. 62Putzi bringt in seiner Monografie zur Entwicklung des Bürgerrechts zur Annahme und zur Rechtsstellung der Hintersassen Beispiele aus 20 verschiedenen Nachbarschaften und Gerichtsgemeinden, darunter fünf aus dem Churer Rheintal, fünf aus dem Prättigau, drei aus der mittleren und unteren Surselva (davon zwei reformierte Nachbarschaften), drei aus dem unteren Albulatal, zwei aus dem Engadin und zwei aus dem Surses. 63
Gewiss ist es prekär, aufgrund dieser Quellenlage allzu weitreichende Schlussfolgerungen ziehen zu wollen, zumal für zahlreiche Regionen nicht bekannt ist, ob das Fehlen von Reglementierungen schlicht die Folge eines verschwindend kleinen Anteils an Hintersassen war – wenn auch die geringen Hintersassen-Anteile im Unterengadin einer solchen Logik bereits widersprechen würden. 64Immerhin kann man auf eine deutliche Tendenz hinweisen: Das reformiert-rätoromanische Engadin zeichnet sich im Vergleich zum katholisch-rätoromanischen Teil der oberen und mittleren Surselva und dem katholisch-rätoromanischen Teil Mittelbündens ab dem 16. Jahrhundert ganz allgemein durch eine Vielzahl von Statuten und Urkunden aus, die in der katholischen Surselva noch im 17. Jahrhundert praktisch völlig gefehlt haben. 65Dieser Befund korreliert mit dem nachbarschaftlichen Partikularismus, bei dem Aufgaben von den Gerichtsgemeinden an die Nachbarschaften übertragen wurden. Dieser Zusammenhang gilt ebenso für das Prättigau: Partikularismus, Reglementierung und die damit einhergehende Exklusion der Hintersassen bildeten in den reformierten Gebieten einen Nexus, der sich in den katholischen Regionen nicht feststellen lässt. 66
Die meisten dieser Reglementierungen schrieben Restriktionen oder Bürgschaften 67vor. Strikt den Nachbarn vorbehalten waren aber wohl nur die später sogenannten Bürgerlöser; prinzipiell konnten die Hintersassen Wald, Weiden und Alpen mitnutzen. In S-chanf und Bergün/Bravuogn beispielsweise mussten sie dafür im 18. Jahrhundert ausser der Niederlassungssteuer eine Weidetaxe entrichten. 68Solche Niederlassungssteuern und Nutzungstaxen trifft man häufig an. 69Hinzu kamen andere, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft verschiedene Bestimmungen, die den korporativen Charakter der lokalen Wirtschaftsorganisation deutlich machen. Im Oberengadiner Dorf Madulain findet sich für 1772 die Vorschrift, dass die Hintersassen den kalten Backofen aufheizen mussten, 70in St. Moritz (1692) durften sie ohne Erlaubnis der Nachbarn weder Wirten noch mit Wein, Schnaps und Tabak handeln, in Ardez (1752) war ihnen der Ausschank von Wein und Schnaps kategorisch verboten. 71Diese Ausschluss- und Einschlussmechanismen waren der Churer Zunftordnung ähnlich, die den Hintersassen Handwerks- und Gewerbebeschränkungen auferlegte und ihren Anteil an Wald, Weiden und Alpen beschränkte. 72
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