Zwei oder drei Jahre nach Fertigstellung des neuen Hauses errichteten sie hangseitig hinter dem Haus einen grossen Stall, in dem die Rinder, Kühe und Kälber untergebracht wurden, eine stattliche Scheune und einen direkt angrenzenden kleineren Stall für die Schweine, Geissen und Schafe. Die Möglichkeit der Aufbewahrung grösserer Mengen Heu und Stroh und die Nähe zum Vieh erleichterten das Hirten [Füttern, Pflegen und Melken der Tiere] und verminderten den Aufwand während des Winters, da das Heu weniger häufig von verschiedenen, verstreut liegenden Scheunen zum Vieh transportiert werden musste.
Nachdem sie das erste Heu eingebracht hatten, wässerte Jeremias eines Nachts in den Duden, einem Gebiet in Richtung Leuk, eine Wiese. Weiter oben gegen die Varnerfluh besass die Familie zwei weitere Wiesen. Während des Wässerns sah er in einer dieser Wiesen ein Feuer brennen. Er ging davon aus, dass der Stapel Fallholz brannte, den er dort für den Winter aufgetischt hatte. Jetzt hat er kein Holz mehr für den Winter, sagte er sich. Er ging hoch, um nachzuschauen, fand das Holz aber unversehrt vor und fragte deshalb im Dorf nach, ob jemand in der Gegend ein Feuer gesehen hatte. Niemand konnte ihm dies jedoch bestätigen. Zwei Tage später wollten Franz und René am Nachmittag bei der Scheune mit einem Feuerzeug ein Feuer anzünden. Es regnete leicht und das Feuer brannte nicht so richtig, sodass sie näher zum Gebäude rückten und es erneut versuchten. Das Feuer griff auf die nahe gelegene Scheune über und breitete sich wegen des frisch eingebrachten Heus rasch aus. Die Scheune und der anliegende Stall gingen in Flammen auf und brannten nieder. Für die Familie stellte dies ein schrecklicher Schlag dar. Jeremias sass auf der Treppe vor dem Eingang des Hauses, umringt von den Kindern, und hielt seinen Kopf in den Händen. Statt seine Söhne mit Vorwürfen einzudecken, schaute er nur auf und sagte mit trauriger Stimme zu Franz, er solle schauen, was er gemacht habe. Das war seine einzige Reaktion. Glücklicherweise halfen ihnen Jules Bayard, den die Kinder als Gottu [der Familie nahestehenden Mann] bezeichneten, und Leo Roten, zwei Verwandte väterlicherseits, mit Heu aus, denn der Brand hatte ihnen einen Grossteil ihres Heus für den Winter genommen. Dass er das Feuer in der Nacht zuvor in seiner Wiese brennen sehen hatte, betrachtete Jeremias als Zeichen des bevorstehenden Unglücks.
Familienleben
Im Jahr nach der Hochzeit von Oktavia und Jeremias wird Hedy geboren. Als Erstgeborene muss sie früh viel Verantwortung übernehmen. Sie liest gerne und würde am liebsten eine Bürolehre machen, aber eine Berufsausbildung kommt für sie wegen des zu bezahlenden Lehrgelds nicht infrage. Sie beginnt im Gastgewerbe zu arbeiten, heiratet, zieht nach Montreux und bekommt vier Kinder. Ihr Mann stirbt früh und sie ist sehr froh, dass sie in dieser schwierigen Situation auf ihre Brüder und Schwestern zählen kann.
Ich war am liebsten mit dem Vater in den Reben oder auf dem Feld. Er war ein Flotter, ein Feiner. Mit ihm hatte man die Ruhe. Wir konnten miteinander reden, da war es mir wohl. Mama war immer nervös und müde. Kein Wunder, bei dieser Belastung. Er war eine Art Ausgleich. Zu Hause waren die vielen Kinder, die viele Arbeit. Als Älteste musste ich anpacken. Es hiess, du bist das Erste, du musst dies und du musst das. Überall, wo sie jemanden brauchten, sprang ich ein, das ist ja klar. Spielen war Zeitverlust. Du musstest lernen, du musstest arbeiten, was konntest du anderes machen? Ich liebte es, zu lesen. Für die Mutter war das verlorene Zeit. Darum las ich im Versteckten, im Bad oder sonst wo. Und heute sagt man, die Kinder sollen lesen. Ich ging auch gerne in die Kirche. Da hatte ich wenigstens die Gelegenheit, jemanden ausserhalb der Familie zu sehen. Religion war selbstverständlich. In dieser Zeit musste ich zumindest nicht arbeiten.
Mary, die Zweitgeborene, war das genaue Gegenteil von mir. Sie war lustig und übermütig. Ich durfte nicht. Ich war die Stille und Seriöse. Als Erstgeborene musste ich das Beispiel für die anderen sein, das drillen sie dir ein. Ich konnte es der Mutter auch nicht recht machen, ich war ihr zu wenig aktiv, zu ruhig, glaube ich. Vielleicht ging ich ihr auch speziell auf die Nerven, weil ich nicht aus mir herauskam. Das ist schon möglich, das weiss ich nicht. Tante Anna hatte ein Radio. Sie sagte zu meiner Mutter: «Das müsst ihr auch anschaffen.» Meine Eltern kauften sich noch während des Kriegs ein Radio. Dazu musste aber erst eine Antenne montiert werden. Ich hörte gerne den Radiosender «Die Stimme Amerikas» 49. Während des Kriegs wurde dort Propaganda gesendet, und ich interessierte mich für die Informationen. Mary hingegen wollte immer Musik hören.
Als der Krieg losging, waren wir in unserem Maiensäss in Bodmen. Als wir zurück nach Varen kamen, sagte die Mutter zu mir, wir hätten keine Polenta mehr. Wir assen fast jeden Tag Polenta. Ich solle doch in den Konsum welche holen gehen. Dazumal kauften wir ganze Säcke, die wohl um die 50 Kilo schwer waren. Im Konsum sagten sie mir, man könne Polenta nur noch kaufen, wenn man die entsprechenden Coupons erhalten habe. Das war schlimm für uns, denn wir hatten zu wenig Polenta-Coupons, und ohne Polenta konnten wir nicht leben. Da wir Wein produzierten und Bienen hatten, bekamen wir während des Kriegs Extra-Zuckerrationen. Das war allerdings kein normaler Zucker, sondern ein spezieller. Statt ihn für den Wein oder die Bienen zu brauchen, verwendeten wir einen Teil für uns selbst. Die übrig gebliebenen Zucker-Coupons schickte meine Mutter nach Genf zu Leuten, mit denen sie oft Kontakt hatte. Im Gegenzug schickten die Genfer uns ihre Polenta-Coupons. So hatten wir während des Kriegs genug Polenta. Meine Mutter wäre eine gute Geschäftsfrau geworden. In den späten Kriegsjahren nahmen sie abgetrennte Coupons im Konsum nicht mehr an, da sie wussten, dass sie von woanders herstammten. Da war ich 14 oder 15 Jahre alt und empfand das als grosse Ungerechtigkeit. Der Übername unserer Familie, di Gfrornu [die Gefrorenen], stammt auch aus dieser Zeit. Während eines Frühjahrs gefroren Reben und Fruchtbäume, sodass Entschädigungen bezahlt wurden, damit die Bauern überleben konnten. Da wir viele Kinder waren und relativ viele Reben und viel Gut besassen, erhielten wir auch eine entsprechende Entschädigung. Das rief Neid hervor. Ich nahm es auf jeden Fall so wahr. Seither sind wir di Gfrornu im Dorf.
Den Krieg nahmen wir nur indirekt wahr. Als Flugzeuge abends den Himmel Richtung Süden passierten, sagte der Vater: «Schau, jetzt sind die Flieger ganz schwer. Wenn sie in der Nacht oder am nächsten Morgen zurückkommen, sind sie dann ganz leicht.» Und in der Tat, am nächsten Morgen überflogen die Flugzeuge das Wallis ohne Ladung. In der Zeitung stand dann, sie hätten diese oder jene Gegend bombardiert. Am Abend hiess es auch immer, man solle die Fenster verdunkeln. Am Himmel hörte man das Surren der Flieger. Da mein Vater keinen Militärdienst geleistet hatte, wurde er während des Zweiten Weltkriegs nicht eingezogen. Wie oft half er anderen Frauen, deren Männer eingezogen wurden oder die ihren Mann verloren hatten! Er ging mähen und half, das Heu in die Schiir [Scheune] einzubringen. Der Vater sagte oft: «Helft einander». Das haben wir gemacht, alle. Um die Produktion anzukurbeln, wurden die Waren während des Kriegs etwas besser bezahlt. Man erhielt mehr Geld, wenn man Wein oder ein Tier verkaufte. So ging es den Leuten auch mit Selbstversorgung allmählich etwas besser. Nach dem Krieg sagte die Mutter: «Jetzt geht es dann wieder zurück mit den Preisen.» Sie gingen aber nie mehr anhaltend zurück. Nach dem Krieg verbesserte sich das Leben im ganzen Land.
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