Ich wollte nach England gehen, um Englisch zu lernen. Da es in Zermatt viele englischsprachige Gäste gab, musste man dort Englisch sprechen. Meine Mutter machte aber ein Drama. Sie wollte nicht, dass ich weggehe. Sie sagte, es gebe eine Englischschule in Oertlimatt bei Interlaken, ich solle dort Englisch lernen, mein Bruder Franz gehe auch dorthin. «Du gehst nicht nach England, das ist überhaupt nichts.» So besuchte ich diese Schule in Interlaken. Es fuchste mich jedoch, dass ich nicht nach England gegangen war, denn sie hatten mir dort schon eine Stelle zugesichert, die ich absagen musste. In Interlaken lernte ich meinen Mann Désiré kennen, ein Wink des Schicksals. Danach bereute ich es nicht mehr. Er lernte Englisch, weil er nach Kanada wollte, um dort zu arbeiten. Weil er anschliessend aber in Zürich arbeitete, nahm ich eine Stelle in Bern an. Dort war ich in der Mitte zwischen seinem Arbeits- und seinem Heimatort Montreux. Auf dem Weg nach Hause kam er mich in Bern besuchen. Später fand er eine Stelle in Yverdon und wollte mich in seiner Nähe haben. Aber das war mir ein bisschen zu nahe, denn dazumal musste man aufpassen, wenn man zusammen war. Darum ging ich nach Genf, nicht allzu nahe, dann nach Lausanne. Immer ein bisschen näher. Dann heirateten wir. Bon, voilà.
Früher heiratete man in Varen im Deuxpièces in Schwarz. Ich wollte aber unbedingt in Weiss heiraten. Ich war die Erste im Dorf. Danach heirateten die anderen auch in Weiss. Dasselbe war mit den Hüten, die die Mädchen und Frauen zu jener Zeit am Sonntag immer tragen mussten, wenn sie zur Messe gingen. Ich arbeitete in Sitten und hatte gesehen, dass sie dort keinen Hut trugen. Ich hasste den Hut. So ging ich ohne Hut zur Messe. Das war skandalös. Meine Mutter schämte sich und ging stattdessen in die Frühmesse. Das nächste Mal, als ich in Varen zur Messe ging, waren schon drei ohne Hut. Beim dritten Mal hatte kein Mädchen mehr einen Hut auf. Ich war halt weg gewesen und hatte gesehen, dass es anders sein konnte.
Anfang der Sechzigerjahre baute uns mein Bruder Alfons in Montreux das neue Haus. Kaum aus der Maurerlehre war er, stell dir das einmal vor. Er hatte einen Handlanger, der den Zement mischte und anrührte. Auch die Brüder Arnold und Markus kamen manchmal am Samstag helfen. Zwei Sommer lang dauerten die Bauarbeiten. Nach dem ersten Sommer war der erste Stock fertig. Dazwischen machte Alfons in St. Gallen die Ausbildung zum Polier. Und wie er das gebaut hat, das ist so ein gutes Haus. Wir hatten zum Glück einen guten Architekten. Mein Mann hatte gerne moderne Architektur, es ist ein modernes Haus. Mary, Anny und auch Franz liehen uns Geld. Jeder gab so viel, wie er konnte. Darum mussten wir weniger Geld aufnehmen. Der Zins war dazumal sehr hoch.
Hedys Haus in Montreux kurz nach der Fertigstellung (undatierte Aufnahme).
Als Désiré kurz nach Abschluss der Bauarbeiten starb, da hatte ich nie Angst. Er kam bei einem Unfall mit Starkstrom am Arbeitsplatz ums Leben. Der Strom war nicht abgestellt, als er etwas flicken wollte. Daniel, das jüngste unserer vier Kinder, war dazumal zwei Jahre alt. Auch meine beiden Grossväter starben früh. Das liegt in der Familie, das frühe Sterben der Väter. Ich hatte immer Angst, dass dies weitergeht, dass die Väter sterben, wenn ihre Kinder noch ganz klein sind. Auch meine Schwiegermutter verlor ihren Mann früh wegen einer Krankheit. Zu jener Zeit hatten sie jedoch noch keine Versicherung. Désiré hatte zum grossen Glück Versicherungen abgeschlossen. So hatte ich auch als Hausfrau und Mutter mein Auskommen. Du weisst nicht, wie froh ich drum war.
Zu wissen, dass die Familie da war, gab mir nach Désirés Tod eine Sicherheit, auch mit den kleinen Kindern. Ich wusste immer, wenn ich etwas brauche, dann kann ich zu den Brüdern und Schwestern gehen. Das half mir das ganze Leben lang. Zu wissen, dass du jemanden hast, zu dem du gehen kannst. Den guten Familiensinn haben uns unsere Eltern eingepflanzt. Wir sehen uns zwar nicht oft, aber wenn wir zusammenkommen, dann haben wir es gut.
Zu Mutters 70. Geburtstag machten die Zwillinge, meine beiden jüngsten Geschwister, ein Fest. Da fiel mir etwas wieder ein, was mich jahrelang bedrückt hatte. Als die Zwillinge geboren wurden, da war ich 16 Jahre alt. Die Mutter musste die letzten zwei Monate vor der Geburt im Spital liegen, sonst hätte sie die Kinder verloren. Während dieser Zeit schickten sie mich als Älteste mit dem Vieh und den Kindern, die noch nicht in die Schule gingen, nach Bodmen. Das waren die drei Kleinsten, Erich, Markus und Alfons. Es war Ende Januar. Da wir dort Heu in der Schiir hatten, musste im Winter immer einer mit dem Vieh dorthin. Ich schaute zum Vieh und beaufsichtigte die Kinder. Der Vater blieb mit denjenigen, die zur Schule gingen, in Varen. Der Alfons war mit 14 Monaten der Jüngste und schiss mir nichts als in die Hosen. Die Mutter hatte so eine Angst, «Jesses Gott, das Kind isst nichts, der Kleine da alleine in Bodmen». Aber der Vater sagte: «Ich kann die nicht alle in Varen haben, das ist unmöglich.» Der Vater hatte ein unglaubliches Vertrauen, der sagte sich, das Kind macht das schon. Ich hätte alles für ihn gemacht. Ich machte dem Alfons Minästrasuppe [Minestrone]. Und der Kleine ass und ass und hatte eine angeregte Verdauung. Ich wusste nicht mehr, wie ich die Windeln trocknen sollte. Überall in der Küche waren Windeln aufgehängt und ich machte dauernd Feuer, damit sie trockneten. Ich war überfordert. Ich konnte den Kindern zu wenig Halt geben, ich war ja selbst noch ein Jungi [Kind]. Ah, bon dieu. Die anderen Varner, die zur gleichen Zeit in Bodmen waren, sagten, ich sei die Erste im Stall. Kein Wunder war ich die Erste. Der Erich hatte so eine Angst vor dem Vieh, dass ich die Kinder zu Hause schlafen liess. Ich musste vor ihrem Erwachen fertig sein. Im Stall hatten sie so Angst, sie weinten und weinten und weinten. Nichts als gitullut [geweint]. Ich wusste nicht mehr, was machen. Dem Vieh gab ich wahrscheinlich nicht genug Heu. Die wollten immer hinauf zur Schiir. Da habe ich versucht, Erich mit einem Stock dorthin zu stellen, er solle die Kühe abwehren. Aber als die erste Kuh den Grind drehte, sprang er vor Angst den auf beiden Seiten hochgestapelten Schnee ämbrüf [hoch]. Der Vater hatte mir schon gezeigt, wie viel Heu ich dem Vieh geben soll, aber mein Schoss war kleiner als seiner. Es war einfach zu viel. Ich hatte das Gefühl, ich mache es nicht richtig. Dann kam der Vater und sagte, es sind Zwillinge geboren. Zwei Buben mehr.
Die Geschichte mit den Buben in Bodmen bedrückte mich. Ich litt lange darunter. Aber sonst gab es nichts, was mich bedrückte. Wir hatten es schwer, aber wir hatten es gut. Die Mutter sorgte gut für uns, da kann niemand etwas aussetzen. Es fehlte uns an nichts. Wir hatten zwar kein Geld, aber zu essen hatten wir immer. Klar mussten wir alle arbeiten. Aber wir hatten ein flottes Familienleben. Sachen, die nicht gut waren, vergass ich, das war ein grosses Glück in meinem Leben. Ich wollte vielleicht vergessen, als ich heiratete. Ich glaube, nur so kann man überleben. Seitdem ich hier in Montreux bin, ist mir wohl. Die haben mich hier aufgenommen wie eine Schwester, da war alles vorbei.
[Montreux, Dezember 1954]
Meine Lieben!
Heute Abend seid Ihr daheim versammelt zur Feier des gnadenreichen Weihnachtsfestes. Die ganze Familie seid Ihr um den Gabentisch vereint, nur zwei werden fehlen [Marie in Amerika und Hedy], und diese zwei werden aber sicher in Gedanken mit Euch Weihnachten feiern, sich mit Euch freuen an den vielen Gaben und Geschenken, und doch so weit von Euch entfernt sein. Doch keine Sorge; der Weihnachtsabend hat auch für uns seine Freuden, wie er sie sicher für jeden hat, der guten Willens ist und das sind wir doch. Die Gedanken jedoch sind immer dort, wo sie das Schönste erwarten, nämlich daheim, daheim wo es so schön ist, dass einem das Herz weh tut, wenn man denkt; du bist nicht da, Du sehnst Dich zu ihnen, sie sehnen sich nach dir und weite Fluren und Berge trennen euch. Um Mitternacht werden wir vereint sein in Christus, dem Erlöser aus allem Elend, vereint in der Liebe und Anbetung Gottes.
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