Irma bricht der kalte Schweiss aus, wenn sie an die Wünsche ihres Vaters für ihre Zukunft denkt. Sie hat nicht die geringste Absicht, irgendwen zu heiraten, und zuallerletzt möchte sie diesen Willi heiraten, von dem ihr Vater so begeistert ist. Weder jetzt noch irgendwann. Ihr schaudert allein bei der Vorstellung, mit einer adretten kleinen Schürze Willis Frühstück zuzubereiten und ihm dann hinterher zuzuwinken, wenn er in seinen Mercedes steigt, um eine Sitzung in seiner Firma zu präsidieren. Pünktlich um 12.15 Uhr würden sie sich zu Tische setzen, um die Mittagsnachrichten am Radio zu hören; und am Nachmittag wäre dann für sie ein Besuch beim Coiffeur angesagt oder ein Kaffeeklatsch mit Freundinnen. Natürlich müsste sie am Abend rechtzeitig zurück sein, um die adrette kleine Schürze wieder umzubinden und das Abendessen aufzutragen. Am Wochenende wäre der Besuch bei den Schwiegereltern Pflicht, und im Sommer würde man für drei Wochen an die Adria fahren, immer in dasselbe Hotel. Jeden Tag, jedes Jahr, ein ganzes Leben lang, immer dasselbe! Und stets beobachtet und überwacht von der Hautevolee de Schmerikon. Eine absolut grauenvolle Vorstellung. Niemals! Irmas Groll auf den Vater wächst, türmt sich auf wie Gewitterwolken, während der Zug den stillen, dunklen Walensee entlangfährt und irgendwann Sargans erreicht. Jetzt beginnt sie allmählich, sich auch über sich selbst zu ärgern. Warum nur hat sie sich darauf eingelassen, ihren Bruder mitzunehmen? Immerhin ist nicht anzunehmen, dass er die Rolle als Tugendwächter gern spielt.
Inzwischen nähern sie sich bereits Chur. Sie blickt ihren Bruder verstohlen an. Er schaut ruhig aus dem Fenster, mit einem sehr zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. Er scheint sich doch auf diesen Ausflug zu freuen. Er mag die Berge, geht oft wandern, war im Gegensatz zu ihr selbst sogar schon einmal im Engadin. Er hat die Wanderkarte sorgfältig studiert und ihr den Weg zur Coaz-Hütte beschrieben. Drei Stunden Gehzeit und 900 Höhenmeter von St. Moritz bis zur Passhöhe Fuorcla Surlej, und dann noch einmal eineinhalb Stunden bis zur Hütte. Na ja, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, ihn dabeizuhaben. Wer weiss, vielleicht findet sie in ihm sogar einen Verbündeten gegen die abstrusen Pläne des Vaters.
Nachdem Bruder und Schwester in Chur in die Rhätische Bahn umgestiegen sind, ist Franz’ Aufmerksamkeit ganz auf die spektakuläre Bahnstrecke nach St. Moritz gerichtet. Er blickt unentwegt aus dem Fenster, steht sogar ab und zu auf und setzt sich kurz ins Zugabteil auf der anderen Seite, wenn diese den interessanteren Ausblick verspricht. Kehre um Kehre, Tunnel um Tunnel, Brücke um Brücke schlängelt sich der Zug gemächlich in die Höhe, bis er schliesslich, nach einem kurzen Halt in Preda, in den Albulatunnel einfährt. Nach dem Lärm und der Düsternis des Tunnels entfaltet sich das liebliche, sanft abfallende Val Bever mit dem lockeren Lärchen- und Arvenbestand und dem klaren, sprudelnden Beverin fast wie der Park eines exklusiven Wohnsitzes der von Planta oder von Salis. Dann der elegante, fein gegliederte Kirchturm von Bever, Samedan mit den schönen Patrizierhäusern im Zentrum und schliesslich St. Moritz, damals, 1961, noch nicht ganz so mondän wie heute.
Während der ganzen Fahrt nimmt Irma die Naturschönheiten nur mit einem halben Auge wahr und reagiert lauwarm auf die Ausrufe ihres Bruders «Hast du das gesehen?!», «Schau dir das an!» Im Abteil gegenüber sitzen zwei junge Männer mit Bergschuhen an den Füssen und grossen Rucksäcken, an denen Pickel, Seil und Klettereisen befestigt sind. Sie sind in ein Gespräch vertieft über Wetterbedingungen, Details ihrer Route und erwähnen den Piz Morteratsch, den Piz Tschierva – Gipfel, deren Namen Irma noch nie gehört hat. Neugierig betrachtet sie die beiden: zwei gross gewachsene, gut aussehende Männer in Bergkleidung, mit kurz geschnittenen Haaren, die Gesichter leicht gebräunt. Aber irgendwie wirken sie trotzdem blass; etwas langweilig, befindet sie. Unwillkürlich taucht in ihr Hittas Bild auf, seine dunklen Augen und Haare, das tief gebräunte Gesicht, in dem die Zähne so weiss hervorblitzen, wenn er lacht. Die Ruhe, die er ausstrahlt, und wie fest und sicher er auf dem Boden steht, obwohl er längst nicht so gross und breit gebaut ist wie die beiden Männer im Abteil gegenüber. Wie wird es sein, ihn in dieser neuen Umgebung zu sehen, in der Hütte, die ihm offenbar viel bedeutet? Wie das wohl sein mag, da oben zu leben? Freut er sich auf ihren Besuch? Irma spürt eine eigenartige Unruhe bei diesen Gedanken, die sie auch später, während des Aufstiegs von St. Moritz zum Hahnensee und zur Fuorcla Surlej, nicht loslassen.
Die Steinwüste, die sie mühsam kurz vor Erreichen der Fuorcla Surlej durchqueren, lässt noch nichts vermuten von der Schönheit und Erhabenheit der gewaltigen Arena aus Fels und Eis, die sich ihnen eröffnet, als sie oben ankommen. Der Piz Bernina und die ganze Berninakette mit dem Roseggletscher scheinen zum Greifen nah, und vom kleinen See, wo sie Rast machen, bietet sich ein herrlicher Blick auf die Sellagruppe. Irma hat noch nie einen Gletscher gesehen, noch nie solche Massen aus Fels und Eis. Sie ist sprachlos. Hitta hat ihr zwar immer wieder einmal eine Postkarte geschickt mit Fotos der Berge, die er gerade erklettert hatte, aber kein Bild könnte eine Ahnung vermitteln von der Wucht des Eindrucks, den diese Landschaft macht.
Der Weg, den sie nun noch bis zur Hütte zurücklegen müssen, ist im Vergleich zum Aufstieg, den sie hinter sich haben, gemütlich. Nach einem kurzen Abstieg schlängelt er sich dem Bergabhang entlang, gesäumt von satt-farbigen Alpenblumen, die Irma grösstenteils noch nie gesehen hat. Enzian, Alpenrose und Edelweiss kennt sie natürlich von kitschigen Heimatbildern und aus süsslich-populären Liedern, aber von Frauenmantel, Türkenbund, Himmelsherold, Knabenkraut, Frauenschuh und Schwefelanemone hat sie noch nie etwas gehört, geschweige denn sie in natura gesehen. Das unscheinbare Männertreu, dessen verführerischen Vanilleduft sie beim Vorübergehen nicht wahrnehmen kann, fällt ihr nur deshalb auf, weil gerade ein hübscher, gelber Falter darauf sitzt.
Ungefähr eine Stunde später sehen sie die graue Steinhütte mit dem flachen Satteldach, die sich dicht an eine hohe Felswand schmiegt, und sie bleiben einen Augenblick stehen, um sie zu betrachten. Die Fenster sind klein, damit der Wärmeverlust im Winter möglichst gering ist, und sie sind zum Schutz gegen Wind und Wetter tief in die dicken Mauern eingelassen. Vor der Hütte befindet sich eine Terrasse, von einer Steinmauer umgeben, und einige Steinstufen führen zur Hüttentüre empor. Es ist kein Mensch zu sehen. Irma und Franz sind beide überwältigt von der Schönheit, die sie hier umgibt: schneebedeckte Gipfel, blühende Bergwiesen, Ruhe und tiefer Frieden. Das hier ist eine ganz neue Welt, eine Welt für sich, in jeder Hinsicht weit entfernt von der, aus der sie kommen und die sie kennen. Es ist Franz, der zuerst Worte findet: «Mein Gott, ist das schön hier!» Ja, es ist wunderschön hier, einmalig schön. Irma bringt kein Wort hervor. Da kann man atmen, sich bewegen, sich selbst sein; das ist Freiheit. Die Enge von Schmerikon, das lärmige Zürich sind weit weg. Gleichzeitig sind da auch leise Zweifel: Könnte sie, so wie Hitta, während Monaten hier leben? So völlig abgeschieden von allem, was ihr vertraut ist? Umgeben von Fels und Eis?
Bruder und Schwester stehen noch immer da und staunen, als sich die Hüttentüre öffnet und Hitta ihnen entgegentritt.
Zwei Tage später verabschieden sich Franz und Irma von Hitta und seiner Mutter, der Nane, die einige Tage bei ihrem Sohn verbringt und ihn bei der Bewirtschaftung der Hütte unterstützt, und wandern zurück zur Fuorcla Surlej. Wieder bleiben sie an derselben Stelle des Pfads stehen, wie zwei Tage zuvor, und blicken zur Hütte zurück. Wiederum ist es ein herrlicher Sommertag, und ein tiefblauer Himmel wölbt sich über ihnen. Franz schaut Irma von der Seite her lange an. Dann sagt er: «Es ist wirklich so schön hier, dass man sich fast vorstellen könnte, den ganzen Sommer über zu bleiben.» Und sie glaubt, einen fragenden Unterton zu hören. «Ja, es ist schön», sagt sie so leichthin wie möglich – und als sie weitergehen, beginnt sie, über Banalitäten zu plaudern: über den Weg zurück nach St. Moritz, über den Fahrplan, die Umsteigezeiten und ihren nächsten Arbeitstag im St. Annahof in Zürich. Niemand braucht von den Gefühlen zu wissen, die sie gerade völlig durcheinanderbringen. Natürlich ist sie verliebt in Hitta, ja, klar, und er auch in sie, aber das ist ja nicht ganz neu. Und dennoch fühlt sie sich so verwirrt, so an- und aufgeregt, wie wenn sie dieses Gefühl des Verliebtseins erstmals neu entdeckt hätte. Ja, natürlich, das muss es sein: Sie hat sich tatsächlich neu verliebt; in alles hier, in die Hütte, samt Hund und Maultier, in das einfache, ursprüngliche Leben und in diese Hochgebirgswelt.
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