Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Kulturförderung Graubünden
Kulturförderung Region Maloja
Gemeinde Pontresina
Gemeinde Samedan
Stiftung Biblioteca Engiadinaisa
Fondazione Dr. Martin Othmar Winterhalter
Willi Muntwyler-Stiftung
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Alle Bilder stammen aus dem Privatarchiv der Familie Clavadetscher.
Umschlagbild: Irma Clavadetscher mit ihrem Sohn Andrea im Sommer 1965 vor der neuen Coaz-Hütte.
Lektorat:
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz:
Simone Farner, Zürich
Bildbearbeitung:
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-524-4
ISBN E-Book 978-3-03919-973-0
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Kinderjahre
Jugend
Freiheit in der rauen Bergwelt
Die grosse Liebe
Leben auf der Coaz-Hütte
Die neue Hütte
Helikopter, die «fliegenden Maultiere»
Vom Bergneuling zum Hüttenprofi
Irma und Christian
Familienleben zwischen Berg und Tal
Abschiede
Nachwort
Kinderjahre
«Noch heute stört es mich, wenn Schuhe nicht ordentlich weggeräumt werden, die Schuhbändel nicht in den Schuhen versteckt sind.»
Hedi, Franz und Irma
Es ist Freitag, der 29. März 1940. In Schmerikon, einem Dorf am oberen Zürichsee, bricht ein grauer, für die Jahreszeit aussergewöhnlich kalter Tag an, als im Haus zur Krone an der Hauptstrasse 21, in der Wohnung im ersten Stockwerk, Irma Adelina Müller geboren wird. Es ist eine komplikationslose Geburt, Mutter und Kind sind wohlauf.
Die vierjährige Hedi und der dreijährige Franz, die beiden älteren Kinder der Familie Müller, werden gleich nach dem Aufwachen von der Haushaltshilfe Marie ins Schlafzimmer der Eltern geführt, wo zu ihrer grossen Überraschung in einer Ecke eine Wiege steht, mit einem winzigen, fest schlafenden Kind darin. «Das ist euer Schwesterchen Irma», erklärt man ihnen. Die beiden haben zwar keine Ahnung, warum und woher dieses Schwesterchen so plötzlich gekommen ist, aber das beschäftigt sie im Augenblick auch nicht besonders. Viel interessanter ist, dass die Mutter um diese Zeit noch im Bett liegt, das ist ganz unerhört und in ihrem Leben noch nie vorgekommen. Es ist Marie, die heute das Frühstück zubereitet, und in den beiden Schleckmäulchen keimt die Hoffnung auf, dass sie ihr vielleicht eine doppelte Portion Erdbeerkonfitüre aufs Brot abschmeicheln können. Das Aufregendste aber ist, dass offenbar am Abend der Vater vom Militärdienst zurückerwartet wird, obwohl er doch eigentlich erst in einer Woche wieder Urlaub haben sollte. Der wird staunen, dass es hier nun plötzlich dieses kleine Schwesterchen gibt, und sie können es kaum erwarten, ihm die Neuigkeit zu erzählen.
Auch in Schmerikon spürt man in diesem Frühling, ein halbes Jahr nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Auswirkungen der Generalmobilmachung. Wie der Vater der neugeborenen Irma Adelina stehen viele Männer im Aktivdienst an der Grenze. In den gewerblichen wie auch den landwirtschaftlichen Betrieben muss man zusehen, wie man ohne die Männer zurechtkommt; die Frauen tun ihr Bestes, um die Lücken auszufüllen. In den Hausgärten des schmucken Dorfs werden im Sommer weniger Blumen blühen als sonst, denn jetzt wird fast ausschliesslich Gemüse angepflanzt, und wo immer möglich werden Kartoffeläcker angelegt. Niemand weiss, wie lange noch Lebensmittel aus dem Ausland in die Schweiz eingeführt werden können.
Irma ist etwas mehr als zwei Monate alt, als die Mutter im Frühsommer mit den Kindern die Felsenburg, den elterlichen Bauernbetrieb am Dorfrand von Schmerikon, besucht, um das kleine Mädchen seinen Grosseltern vorzustellen. Auch Irmas Patentante ist aus Winterthur angereist. Alle freuen sich über den Familienzuwachs. Gleichzeitig haben die Erwachsenen jedoch einiges zu besprechen, das sie beunruhigt. Der Grossvater berichtet, dass im Buechberg der Bau der Festung Grynau begonnen hat, die in den nächsten zwei Jahren fertiggestellt werden soll. Er erklärt, dass es eine der wichtigsten Staustellen für die vorgesehene militärische Überflutung der Linthebene sein wird, falls feindliche Truppen von Norden eindringen sollten. Hinter vorgehaltener Hand spricht man im Dorf darüber, welche Familien sich bereits nach Unterkunftsmöglichkeiten in der Innerschweiz umgesehen haben, für den Fall einer Evakuierung. Wie soll man dieses Verhalten einstufen, als überängstlich oder als weise vorausschauend? Die Grossmutter erzählt vom Erste-Hilfe-Kurs für Notfälle, den sie im neu gegründeten Samariterverein besucht hat. Die Themen, die dort behandelt wurden, geben ebenfalls Anlass zur Besorgnis: Organisation einer Evakuierung – Schussverletzungen – Handhabung von Gewehr und Gasmaske.
Irmas Geschwister hingegen erleben einen unbeschwerten, wunderschönen Tag. Nichts tun Hedi und Franz lieber, als die Grosseltern zu besuchen und mit den Nachbarskindern im Stall, im Hühnerhof und im Obstgarten herumzustreifen. Hedi ist diesmal allerdings etwas enttäuscht, weil ihre Freundin Barbara, von allen liebevoll Bärbeli genannt, gar nicht so richtig spielen mag. Sie hat Bauchschmerzen und wohl auch Fieber.
Nun, ein paar Tage später stellt sich heraus, dass bei Bärbeli Verdacht auf eine Polioerkrankung besteht. Ab sofort stehen nicht nur die Bewohner der Felsenburg und des Nachbarhofs für drei Wochen unter strenger Quarantäne, sondern auch die ganze Familie Müller. Niemand darf das Haus verlassen. Hedi und der kleine Franz finden das zunächst interessant. Immer wieder schauen sie aus dem Fenster zu dem Soldaten hinunter, der den ganzen Tag auf einem Holzhocker vor ihrer Haustüre sitzt und aufpasst, dass niemand hinein- oder hinausgeht. Ob er wohl auch nachts dort sitzt? Oder darf er nach Hause gehen, um zu schlafen? Das interessiert die beiden brennend, aber die Mutter erlaubt ihnen nicht, nachts aufzustehen, um nachzusehen. Jeden Vormittag jedoch reichen ihm die Mutter oder Marie einen Zettel und eine grosse Tasche durch den Türspalt, und er verschwindet für kurze Zeit, um im Dorfladen Brot, Milch, Eier oder Kartoffeln und Gemüse für die Familie einzukaufen. Und später am Tag geht die Türe noch einmal auf, diesmal etwas weiter, und der Soldat nimmt einen Korb mit frisch gewaschenen Windeln entgegen, die er dann im Hinterhof an die Wäscheleine hängt. Hedi lacht laut, als sie ihm aus dem Fenster im ersten Stockwerk zuschaut, denn die Windeln hängen schlaff und traurig, nicht schön straff und regelmässig, jeweils zwei mit einer Wäscheklammer zusammengehalten, so wie das die Mama oder Marie machen. Ob der Vater, der ja jetzt auch Soldat ist, das besser könnte?, fragt sie sich. Jedenfalls hat sie den Vater noch nie Wäsche aufhängen sehen.
Inzwischen ist ihr der Soldat in seiner grünen Uniform nicht mehr so unheimlich wie am Anfang, weil er öfters zum Fenster hochschaut, lacht und ihr zuwinkt, wenn er sie dort stehen sieht. Aber vor den anderen Soldaten, die manchmal in einer langen Kolonne im Gleichschritt am Haus vorbeimarschieren, fürchtet sie sich schon ein wenig; vor allem nachts, wenn es ganz still ist und sie nicht schlafen kann und dann plötzlich die genagelten Stiefel in regelmässigem Rhythmus auf dem Pflaster aufschlagen. Manchmal hört sie auch ein lautes Rattern und Rumpeln; dann sagt die Mutter am Morgen jeweils zu Marie: «Heute Nacht haben sie wieder Panzer verschoben.» Hedi hat keine Ahnung, was Panzer sind und warum man sie auf der Strasse herumschieben muss. Vielleicht so etwas wie grosse Möbel in der Stube? Aber sie hat am Morgen noch nie ein Bett oder einen Schrank auf der Strasse gesehen.
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