War es Schicksal, dass sich Irma und Hitta, die in völlig verschiedenen Welten lebten, begegneten? Oder begegnete man sich, wenn man zu jener Zeit in Arosa lebte, früher oder später unweigerlich? Beide können sich jedenfalls später nicht an ihr erstes Treffen erinnern. Fest steht nur, dass Irma seit der Bemerkung ihrer Chefin neugierig nach dem aussergewöhnlichen jungen Mann mit dem schwarzen Bart Ausschau hält. Hitta seinerseits ist die hübsche, junge Schneiderin aus dem Unterland mit dem übermütigen Lachen und den Grübchen in den Wangen auch aufgefallen, und er möchte sie gerne kennenlernen. Der glückliche Zufall will es, dass Hitta mit jenem Aroser Bauern befreundet ist, der seit einiger Zeit um Irmas Freundin Marianne wirbt, sodass die beiden miteinander bekannt gemacht werden, «wie es sich gehört». Dennoch dauert es noch ein Weilchen bis zum ersten richtigen Rendezvous. Und das beginnt nicht unbedingt erfolgversprechend. Hitta lädt Irma an einem Sonntag zu einem Spaziergang und einem Kaffee ein, und er weiss nichts Besseres, als sie die Namen aller Berge rund um den Aroser Talkessel abzufragen, vielleicht um seine eigene Unsicherheit und Verlegenheit zu überspielen, indem er sie in Verlegenheit bringt, denn er geht ja nicht jeden Tag mit einer eleganten Unterländerin spazieren. Sie fühlt sich ertappt, da sie kaum einen Berggipfel nennen kann, und ist nun tatsächlich verlegen. Von Liebe auf den ersten Blick kann bei Irma keine Rede sein, aber Tatsache ist, dass Hitta ihr mit dieser Eröffnung unbeabsichtigt einen Blick in sein tiefstes Inneres erlaubt, auch wenn sie es nicht so wahrnimmt. Die Berge gehören untrennbar zu ihm und seinem Leben, und wer ihm nahekommen will, muss sich mit den Bergen auseinandersetzen. Trotz diesem wenig verheissungsvollen Anfang treffen sich die beiden nun ab und zu an einem Sonntag und gehen miteinander in die Berge. Irma erfährt von Hitta, dass er in ganz einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist und immer noch bei seinen Eltern lebt. Er hat nicht einmal ein eigenes Zimmer und schläft in der Stube. Im Winter arbeitet er als Pistenkontrolleur und Skilehrer. So bald als möglich möchte er das Bergführerpatent erwerben.
Der Zugvogel
Ende Wintersaison 1961 wird Irma von einer inneren Unruhe gepackt. Sie lebt nun schon seit eineinhalb Jahren in Arosa und braucht Abwechslung. Gewiss, sie ist vielleicht ein ganz klein wenig verliebt in den schwarzhaarigen Bergler, aber sie will schliesslich frei und unabhängig bleiben. Da lockt die Stadt Zürich als neues Abenteuer. Im Warenhaus St. Annahof an der Bahnhofstrasse findet sie eine Stelle als Änderungsschneiderin, und sie entschliesst sich, während der Sommermonate doch wieder in Schmerikon bei den Eltern zu wohnen – teils aus Kostengründen, teils auf Druck des Vaters, dem die Idee, dass seine Tochter allein in der grossen Stadt ein Zimmer mietet, gar nicht gefällt.
Hitta verbringt einen grossen Teil des Sommers auf 2400 Metern in der Coaz-Hütte im Val Roseg. Sein Bruder Hans ist zum Schluss gekommen, dass das Leben im Hochgebirge und die Arbeit als Hüttenwart doch nicht so ganz seine Sache seien, und Hitta hat die Hüttenwartstelle von ihm übernommen. Ihm kommt die relative Freiheit, die diese Arbeit gewährt, entgegen. Er hat die Ausbildung zum Bergführer begonnen, die in Abschnitten von jeweils einem oder mehreren Tagen absolviert wird. Ab und zu trifft in Schmerikon eine Postkarte von ihm ein, manchmal gleich zwei oder drei nacheinander.
4. Mai 1961 (Bild: Dufourhütte)
Hier eine Karte von unserer zweiten Tour. Leider haben wir die Berge nicht gesehen, alles war im Nebel. Herzliche Grüsse Hitta
6. Mai 1961 (Bild: Hotel Hermann Geiger, Sion)
Wegen schlechtem Wetter sind wir wieder im Tal. Doch auch hier ist es schön, vor allem die Mädchen. Gruss Hitta
8. Mai 1961 (Bild: Les Pyramides d’Euseigne)
Schon wieder sind wir unterwegs zum Klettern. Somit ist es aus mit den Mädchen! Gruss Hitta
Dass viele solche Karten in regelmässigen Abständen eintreffen, spricht eine deutliche Sprache; ebenso die Tatsache, dass Irma sie fast sechzig Jahre später noch immer sorgfältig aufbewahrt und etliche davon vergilbte Spuren vom Klebeband tragen, mit dem sie an der Wand befestigt wurden.
Schon bald folgt diesen kurzen, wenig emotionalen Postkartengrüssen ein Brief. Hitta hat offenbar Sehnsucht nach Irma und sie nach ihm.
Coaz, 25.6.61
Liebe Irma
[…] Alles, aber auch alles, was ich mir wünsche, ist Dich wieder zu sehen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, ich bin gewiss, und wenn die ganze Welt gegen mich ist, ich sehe Dich wieder. Hier ist es herrlich, all die Blumen, der Himmel und ziehende Wolken, Sonnenflirren über Eis und Gletscher, helles Grün der Lärchen, Duft der Arven.
All diese Schönheit möchte ich sammeln und Dir, Irma, senden, damit Du etwas hast für Deine Traurigkeit.
Du und ich, schau, Irma, ich bete sogar zu einem Gott, dass er unsere Liebe erhalte.
Viele Küsse
Dein Christian
Diesem Brief kann Irma nicht widerstehen. Sie zögert zwar, entschliesst sich dann aber, Hitta in seiner Bergeinsamkeit zu besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wo und wie er nun lebt.
August 1961: erster Besuch auf der Coaz-Hütte
Irma und ihr Bruder Franz sitzen sich im Zug nach Chur gegenüber und schweigen. Beide sind in Gedanken versunken. Franz ist in seiner Fantasie bereits in St. Moritz angekommen und stellt sich die Wanderroute vor, die er gestern auf der Karte sorgfältig studierte. Ob sie wohl Gämsen sehen werden, im Corvatschgebiet oder im Rosegtal? Oder wird er übermorgen das Engadin wieder verlassen, genauso enttäuscht wie beim letzten Mal, als alles Warten und Ausschauhalten mit dem Feldstecher ihm nichts als ein paar Murmeltiere vor die Linse brachte? Die Reise ins Engadin ist doch ziemlich lang und auch nicht gerade billig. Wenn es diesmal wieder nicht klappt mit den Gämsen, könnte es eine Weile dauern bis zum nächsten Versuch. Lohnen wird sich die Reise zwar auf jeden Fall, und nicht nur wegen der wundervollen Bergwelt. Er wird Irmas Aroser Freund kennenlernen, dessen Besuch in Schmerikon neulich den Vater so aufgebracht hat. Offenbar arbeitet er seit dem Frühling als Hüttenwart auf der Coaz-Hütte. Da muss man schon aus ganz speziellem Holz geschnitzt sein, um dieses Leben in der Abgeschiedenheit des Hochgebirges zu wählen, denkt er.
Auch Irma ist mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie ist halb amüsiert, halb verärgert. Nur weil sie jetzt eine Sommersaison in Zürich arbeitet und wieder im Elternhaus wohnt, glaubt der Vater, er müsse erneut seine väterliche Autorität geltend machen und über ihre Tugend wachen. Dabei ist sie 21 Jahre alt und lebt und arbeitet seit bald zwei Jahren in Arosa, ohne dass er irgendeinen Einfluss darauf gehabt hätte, wie und mit wem sie ihre Zeit verbrachte. Und das geht ihn auch gar nichts mehr an.
Sie darf nicht daran denken, wie unmöglich er sich gebärdet hat, als Hitta sie vor einigen Wochen in Schmerikon besuchen wollte. Es war geradezu peinlich. Hitta musste in einem Hotel übernachten, als ob sie in ihrem grossen Haus nicht genügend Platz gehabt hätten, um ihn unterzubringen. Aber nein! Was würden auch die Leute sagen! Schlimm genug, dass Spenglers Tochter Herrenbesuch bekam, aber ihn auch noch im Haus übernachten lassen, diesen Wilden, diesen Berg-Hippie, der nichts ist und nichts hat, wo sie doch nur mit dem kleinen Finger winken müsste, um Willi, den wohlhabendsten und respektabelsten jungen Mann von Schmerikon, zu heiraten. In einer Villa in einem Park könnte sie leben, wahrscheinlich mit einem Dienstmädchen. Und wer weiss, wie weit es der junge Mann noch bringen wird. Immerhin hatte er schon jetzt gute Aussichten auf einen Sitz im Gemeinderat. Und wenn ihr dieser nicht passen würde, gäbe es genügend andere katholische junge Männer mit anständigen Berufen in Schmerikon, die sich um das schöne «Fräulein Spengler» reissen würden. Der Vater regte sich furchtbar auf, und es kam – wie so oft in früheren Jahren – wieder einmal zu einer lauten Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner mittleren Tochter.
Читать дальше