TherapeutInnen können mit der PatientIn ein Gefühl des »Pseudokontakts« erleben, so wie wir es von alkoholabhängigen PatientInnen kennen (Carlock / Glaus / Show 1992). Der Kontaktprozess scheint erst gut und einfach vonstatten zu gehen, doch der volle Kontakt lässt sich nicht erreichen.
Wir können die Einnahme von Benzodiazepinen als eine kreative Anpassung betrachten. Für die PatientIn stellen die Medikamente den bestmöglichen verfügbaren Weg dar, mit der schwierigen Situation umzugehen. Wenn wir den Effekt von Benzodiazepinen aus einer phänomenologischen Perspektive sehen, wird deutlich, dass sie den Kontaktzyklus verlangsamen und weicher machen. Sie haben nur eine kurzfristige Wirkung, doch sie können den Teufelskreis der Angst unterbrechen und die Selbstheilungskräfte der PatientIn aktivieren. Wir stellen mehrere Beispiele solcher Effekte vor:
• Manche Wahrnehmungen können so stark sein, dass sie zu einer massiven, die Bewusstheit blockierenden Angst führen. Wenn Benzodiazepine die Intensität der Wahrnehmungen herabsetzen, können sie der PatientIn helfen, zumindest teilweise achtsam und frei zu werden, um bewusste Entscheidungen zur Bewältigung der Situation zu treffen. 7
• Sie reduzieren den Notfallcharakter der Situation und verlangsamen die Mobilisierung von Energie (z. B. Hyperventilation bei starker Angst) und können der PatientIn dadurch helfen, sich leichter für eine angemessene Reaktion zu entscheiden.
• Sie verringern die Alarmbereitschaft (zu fliehen oder zu kämpfen) des Organismus und helfen so dabei, die immer größer werdende Mobilisierung von Energie zu stoppen. So können sie es für die PatientIn leichter machen, einen Kontaktzyklus abzuschließen und sich zurückzuziehen (z. B. durch Schlaf). Gleichzeitig tragen sie zu einem Aufschub der Wahrnehmung eines neuen Bedürfnisses und dem Beginn eines neuen Kontaktzyklus bei.
Die vorübergehende Anwendung von Benzodiazepinen während einer akuten Krise ist sinnvoll. Sie bringt hier Ruhe, in deren Verlauf die Selbstheilungsprozesse des Körpers so aktiviert werden können, dass ein weiterer Einsatz von Medikamenten vielleicht gar nicht mehr notwendig ist. In der Psychotherapie ist es nützlich, sich Fertigkeiten anzueignen, die den Effekt eines potenziell abhängig machenden Medikaments schließlich ersetzen (z. B. verschiedene Arten von Entspannungstechniken oder funktionaler Deflexion). Die psychotherapeutische Unterstützung spielt also beim Festlegen des Zeitpunkts einer Dosisreduzierung oder des Absetzens von Benzodiazepinen eine erhebliche Rolle.
4.1.2 Langsame und langfristige Medikamente (Antidepressiva, Antipsychotika, Phasenprophylaktika)
Verglichen mit den schnell wirkenden Benzodiazepinen tritt die volle Wirkung dieser Medikamente erst nach längerer Zeit ein (nach Tagen, Wochen bis hin zu Monaten) 8
Abb. 5: Antidepressiva – Psychiatrische Anwendung
Antidepressiva können das Erleben langfristig »weicher« machen. PatientInnen, die Antidepressiva einnehmen, beschreiben, dass das Erleben aus größerer Distanz zu kommen scheint, mit niedrigerer Intensität und Schärfe. Aus diesem Grund kann es unangebracht sein, in Fällen, in denen die Traurigkeit vom Tod einer nahestehenden Person ausgelöst wurde, automatisch Antidepressiva einzusetzen. Hier können Antidepressiva den natürlichen Trauerprozess nicht nur aufschieben, sondern manchmal sogar stoppen.
Im Falle einer Depression können Antidepressiva zu einer funktionalen Desensibilisierung beitragen. Die Gefühle von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit werden von der PatientIn nicht mehr als so qualvoll erlebt. Die verringerte Intensität der schmerzvollen Erfahrungen befähigt die PatientIn paradoxerweise, in der Psychotherapie zu arbeiten und davon zu profitieren. Es kann der PatientIn helfen, solche »verpackten« Erfahrungen mit der TherapeutIn zu teilen statt damit allein zu bleiben. Auf diese Weise wird die fixierte Gestalt der Depression in der Therapie unterbrochen (siehe Kapitel 21 über Depressionen).
Antidepressiva können nicht nur zu einer funktionalen Desensibilisierung beitragen, sondern auch zur Mobilisierung von Energie. Im Fall von schwereren Depressionen können die Antidepressiva helfen, die Energiereserven langsam wieder aufzufüllen. Diese Energie lässt sich dann von der PatientIn für notwendige Handlungen mobilisieren. »Ich habe nicht an die Antidepressiva geglaubt … Aber nach ungefähr zwei Monaten konnte ich alltägliche Dinge wieder genießen. Und ich bin ein bisschen aktiver geworden …«
Antidepressiva mildern auch Angst. Verglichen mit Benzodiazepinen tritt ihr angstlösender Effekt langsamer und weniger offensichtlich ein, hält länger an und es besteht kein Abhängigkeitsrisiko.
4.1.2.2 Stimmungsstabilisier (Phasenprophylaktika)
Abb. 6: Stimmungsstabilisier – Psychiatrische Anwendung
Stimmungsstabilisierer sind Medikamente, die bei der Erdung helfen können. Sie reduzieren die Intensität und verlangsamen die »Hochphasen« des Kontaktzyklus (Mobilisierung von Energie und Handlung). Andererseits stärken sie die »Tiefphasen« des Kontaktzyklus (das Bewusstsein von Wahrnehmungen, die Integration von Erfahrungen und Rückzug). Sie reduzieren die exzessive Intensität einer Erfahrung und ermöglichen dadurch eine angemessene Handlung und eine Kontakterfahrung. Die Vorteile solcher Wirkungen sind offensichtlich, wenn das Medikament die vorherrschende Manie oder Depression »im Zaum« hält. Zwischen den Episoden, wenn die PatientIn gut »funktioniert«, wird die Verringerung der Energiemobilisierung und der Aktivität manchmal als unangenehm erlebt. Langfristiger Gebrauch des Medikaments ist dennoch normalerweise notwendig, um schwere Manien und Depressionen zu verhindern. Eine Psychotherapie ermöglicht eine Aussöhnung mit den Einschränkungen, die die Erkrankung und die Medikation mit sich bringen, und konzentriert sich darauf, die funktionierenden Bereiche im Leben der PatientIn zu unterstützen.
Bei PatientInnen mit instabilem emotionalen Erleben (diagnostiziert als Persönlichkeitsstörung) können Stimmungsstabilisierer als »innere Bestärkung« oder als ein »Rahmen« dienen, der es ermöglicht, das Erleben zu strukturieren und zu ertragen, ohne dass die unerträgliche Spannung durch impulsive Handlungen abgebaut werden muss. In diesem Fall hat die Psychotherapie eine ähnliche Aufgabe und kann schließlich theoretisch das Medikament ersetzen.
4.1.2.3 Antipsychotika (Neuroleptika)
Abb. 7: Antipsychotika – Psychiatrische Anwendung
Antipsychotika kann man als Medikamente betrachten, die helfen, die Grenze zwischen Körper und Umwelt zu klären und zu stärken. Ein Mensch in einer akuten psychotischen Phase erlebt sich selbst nicht als klar von der Umwelt abgegrenzt, im psychologischen Sinn hat er »keine Haut« (Spagnuolo Lobb 2003a, 264). Er kann sich durch Ereignisse, die mit ihm nicht in Verbindung stehen, bedroht fühlen, oder denken, dass sein eigenes Erleben die Macht hat, seine Umwelt direkt zu beeinflussen. Er lebt in einem Zustand, in dem er sich permanent bedroht fühlt, und die psychotischen Symptome stellen eine kreative Anpassung dar, die ihm helfen, diese schwierige Feldkonstellation zu überleben (für Details siehe Kapitel 20 über Psychosen).
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