André Holenstein - Mitten in Europa
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Mitten in Europa
Verflechtung und Abgrenzung: Geschichte und Aktualität einer Schweizer Problematik Verflechtung und Abgrenzung: Geschichte und Aktualität einer Schweizer Problematik
Europäisierung, Globalisierung und die Verunsicherung der Schweiz
Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild
Identitätsbildung und Alteritätserfahrung: die Gründung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert
Verflechtungen in der alten Schweiz
Verflechtung durch Migration
Militärische Arbeitsmigration
Zivile Arbeitsmigration
Kommerzielle Verflechtung
Aussenpolitische und diplomatische Verflechtung
Abgrenzungen in der alten Schweiz
Neutralität als Abgrenzung: vom Gebot der Staatsräson zum Fundament nationaler Identität
Identitätsbildung durch Abgrenzung: «frume, edle puren» gegen den bösen Adel
Bedrohtes eidgenössisches Wesen: die Kritik an Solddienst und «fremden Händeln»
Helvetismus: Abgrenzungen gegen das Ausland und die Entdeckung des Schweizer Nationalcharakters
Zwischen Einbindung und Absonderung: Rollen und Rollenbilder des Kleinstaats im 19. und 20. Jahrhundert
Anders ( und besser): die Erfahrung des Sonderfalls
Anders ( und vorbildlich): die Rechtfertigung des Sonderfalls
Die Aussenbeziehungen einer kleinen, neutralen, besonderen Republik
Wachstum durch Verflechtung: der Kleinstaat als Wirtschaftsmacht
Mitten in Europa: Transnationalität als «condition d’être» der Schweiz
Verflechtung als Überlebensstrategie
Abgrenzung als Identitätsstiftung und Legitimationsstrategie
Was leistet die transnationale Betrachtung der Schweizer Geschichte?
Anmerkungen
Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln
Bibliografie
Abbildungsnachweis und Abkürzungen
Europäisierung, Globalisierung und die Verunsicherung der Schweiz
Die Schweiz ist fundamental verunsichert. Die Globalisierung der Wirtschaft und der dynamisch fortschreitende Prozess der europäischen Integration wirken sich massiv auf den Kleinstaat aus und erschüttern das fundament des nationalen Selbstverständnisses. Was lange Zeit als verlässlicher Rahmen schweizerischer Selbstverortung in der Welt galt, ist brüchig oder hinfällig geworden. Die Schweiz sieht sich aufgerüttelt und durchgeschüttelt durch Entwicklungen in Europa und in der Welt, deren Antriebskräfte sich der souveränen Kontrolle des Kleinstaats entziehen.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 löste sich jene bipolare Mächteordnung auf, die der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg ihren Platz in der Welt der antagonistischen Supermächte zugewiesen hatte. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs zählte sich auch der neutrale Kleinstaat zum westlichen, antikommunistischen Lager. Unter dem Schild der atomaren Abschreckung fand auch er Sicherheit und profitierte von einer Weltlage, in der die Staaten andere Sorgen hatten, als sich um die ungefährliche Schweiz zu kümmern. Doch seit 25 Jahren ist die politische Weltordnung von einer diffusen Multipolarität bestimmt. Neue Bedrohungslagen (Klimaerwärmung, Umwelt- und Naturkatastrophen, Migrationsbewegungen, Terrorismus) stellten sich ein, vor denen die Neutralität keinen Sinn mehr macht.
In den 1950er-Jahren setzte der europäische Integrationsprozess ein. Der supranationale europäische Staatenverbund, dem mittlerweile 28 Staaten angehören, verdichtete sich institutionell. Er koordiniert die Handels-, Wirtschafts- und Steuerpolitik seiner Mitglieder. Mit dem europäischen Binnenmarkt und dessen vier Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr) schuf die Europäische Union (EU) 1993 den grössten gemeinsamen Markt der Welt. Dieser ist von existenzieller Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft. Nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durch das Volk 1992 setzte der Bundesrat die seit dem Freihandelsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1972 verfolgte Strategie des Bilateralismus für die Regelung der Beziehungen zur EU fort. Nachdem diese Politik der sektoriellen Verträge auf bilateraler Basis während 20 Jahren als Königsweg der offiziellen Schweizer Europapolitik in mehreren Volksabstimmungen sanktioniert worden war, stellt die Annahme der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Februar 2014 die Schweizer Diplomatie und Politik vor die komplexe, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe, die neue Verfassungsbestimmung mit den bestehenden bilateralen Verträgen und der früheren, grundsätzlichen Zustimmung der Schweiz zu den europäischen Grundfreiheiten in Einklang zu bringen. Von der institutionellen Klärung ihres Verhältnisses zur Europäischen Union und damit nicht nur zu ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, sondern auch zu ihrem unmittelbaren geopolitischen Umfeld ist die Schweiz im Moment weit entfernt.
Thomas Maissen zu den aktuellen Verstörungen des nationalen Selbstverständnisses (2009)
Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben «etliche frühere Selbstbeschreibungen […] an Erklärungskraft verloren. Gegen welche bösen Mächte soll die Freiheit verteidigt werden, wenn keine Bedrohung durch nahegelegene totalitäre Staaten mehr existiert? Wem gegenüber will man neutral bleiben, wenn die europäischen Völker sich zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschliessen? Was macht den Wirtschaftsstandort Schweiz aus, wenn altvertraute Unternehmen ihre Namen anglisieren, ihre Produktion ins Ausland verlagern und ihre Gewinne dort erwirtschaften? Was bleibt von einem dreisprachigen Helvetismus, wenn wir kulturell vor allem durch die Massenmedien der jeweils einen benachbarten Sprachnation geprägt werden? Oder wenn das freundeidgenössische Binnengespräch in der neuen Primarschulsprache Englisch erfolgen muss?» 1
Als Exportland ist die Schweiz von der Dynamik der Globalisierung und der Liberalisierung des Welthandels besonders betroffen. Schweizer Traditionsmarken gehen in internationalen Konzernen auf. Die Führer der in der Schweiz beheimateten internationalen Konzerne und Banken tragen englische Funktionsbezeichnungen und werden auf einem globalen Arbeitsmarkt für Topmanager rekrutiert. Sie machen Lohn- und Gratifikationsansprüche geltend, deren unschweizerische Unbescheidenheit zu reden gibt. Produktionsstätten werden in Billiglohnländer verlagert, sodass sich im Inland mehr und mehr eine komplexe Dienstleistungswirtschaft entwickelt, die ihren hohen Bedarf an spezialisierten sowie unqualifizierten Arbeitskräften nur noch durch Zuwanderung zu decken vermag.
Die Globalisierung dynamisiert nicht nur die Warenströme; sie setzt auch Menschen in Bewegung. Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Menschen aus Italien erstmals in grösserer Zahl in die Schweiz ein, weil das Land dringend Arbeitskräfte brauchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Spanier und Portugiesen, später Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Seit den 1970er-Jahren trafen zunehmend auch Angehörige aussereuropäischer Kulturen und Länder in der Schweiz ein, insbesondere Flüchtlinge und Asylsuchende aus Vietnam, Sri Lanka, dem arabischen Raum und Schwarzafrika. Seit mehr als einem Jahrhundert bildet die gesellschaftliche Integration der zuwandernden Menschen ein zentrales Thema der Schweizer Innenpolitik. Ausdruck tief sitzender Ängste vor den Folgen der Einwanderung waren die Verfassungsinitiativen gegen die sogenannte Überfremdung, gegen den Bau von Minaretten, gegen liberalere Einbürgerungsbestimmungen oder für die Ausschaffung krimineller Ausländer. Nicht von ungefähr klagten diese Initiativen den Vorrang der nationalen Souveränität gegenüber dem Völkerrecht ein. Das internationalisierte Rechtssystem, in das auch die Schweiz aus freiem Entschluss eingebunden ist, nehmen diese politischen Vorstösse als Bedrohung der nationalen Souveränität wahr, die es mit der Ablehnung «fremder Richter» zu retten gelte.
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