1.1 Das eigene Lernen optimieren – zwei Beispiele
Beispiel:
Fragt man Franco (14, Gymnasiast), was er eigentlich erreichen wolle, sagt er: »Die Matur, einfach den Ausweis für die Uni.« Franco versucht momentan dieses Ziel mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen, was prompt dazu führt, dass er in Mathematik und Physik ungenügend – und im Provisorium ist. Ihn beschäftigen nach Ansicht seiner Eltern derzeit vor allem Computergames, Facebook und Gitarre. Die Handyschulden sind beachtlich.
Neulich hat mich jemand im Anschluss an ein Neuro-Referat gefragt: »Warum verlieren so viele Jugendliche in der Schule Interesse, Neugier und Lernmotivation?« Meine Antwort:
Erstens wissen die Jungen schon sehr viel. Viele Fragen sind beantwortet, die Jungen finden sich in der Welt zurecht, und das Gehirn als Überlebensorgan fühlt sich entsprechend sicher.
Zweitens stimmt es nicht, dass Junge nichts mehr wissen wollen. Was sie interessiert, liegt oft außerhalb der Schule: Bin ich attraktiv genug? Warum komme ich bei Mädchen nicht an? Wie soll ich meine Handyschulden bezahlen? Wie kann ich die neuesten Songs herunterladen? Was mache ich am Samstagabend?
Drittens sind außerschulische Lernangebote von Aikido über Motorradfahren, Internet-Gamen und Snowboarden bis zum E-Mailen, Simsen oder Twittern »geiler«. Oft ist das Leben neben und nach der Schule das »eigentliche Leben«.
Und viertens findet in der Phase des pubertären Gehirns (ca. 11.–14. Lebensjahr) ein markanter Umbauprozess des Frontalhirns statt, der vorübergehend gewisse Irritationen der Aufmerksamkeit und Ausdauer, der emotionalen Stabilität, der Risikoeinschätzung und Impulskontrolle mit sich bringt. Es ist deshalb oft nötig, Jugendlichen mit geduldiger Anleitung und verständnisvoller Konsequenz eine Erwachsenenstütze anzubieten.
Aus der Sicht des Gehirns gibt es starke Gegenargumente gegen das bloße »Laisser-faire«: Wer aus seinem Gehirn (im Extremfall) bloß eine Schutthalde des Zivilisationsmülls macht, verkennt sein Potenzial und seine Chancen. Das Gehirn ist nämlich vor allem das, was wir aus ihm machen. Und es lernt genau so zu lernen, wie es aus vorangegangener Erfahrung gelernt hat, zu lernen. Leider ist dies oft suboptimal.
Das Gehirn ist weitgehend das Ergebnis seines Gebrauchs.
Abb. 1: Das Gehirn, mit dem wir lernen
Alles Leben erfordert Lernen – und Lernen kann Spaß machen, auch in der Gegenwelt der Schule, wo manchmal Durchhalten, Anstrengung, Verzicht und Training nötig sind. Überdies kann man sein Lernen optimieren. Lernen ist ein Lebensprojekt – und deshalb »cool«. Am Lernen gibt es viel zu entdecken, auszuprobieren und zu verbessern. Lernen kann abwechslungsreich, interessant und lohnend sein. Wer sein Lernen verbessert, arbeitet an seiner Person, an seiner Substanz und Attraktivität – und nicht bloß an seinem Gehirn. Die Frage des Lernens ist nicht aus dem Lebenssinn auszugrenzen, weil Leben so viel wie Lernen bedeutet und weil umgekehrt alles Lernen einen mehr oder weniger erkennbaren Lebensbezug hat: Wenn Franco gut Englisch spricht, wird er seine englischen Liedtexte professioneller gestalten können.
Wie kann Franco das Lernen in die eigenen Hände nehmen?
Lernentschluss: Ich will mich aus dem Provisorium hinausarbeiten – und meine außerschulischen Aktivitäten weniger als Flucht, sondern als Belohnung einsetzen. Ich will an der nächsten Klassenprüfung genügend sein.
Lernziel: Ich will in täglicher Nacharbeit (nicht Nachtarbeit!) die letzten zwei Kapitel im Matheunterricht bearbeiten und entsprechende Aufgaben lösen.
Priorität: Das Spielen am Computer will ich täglich auf dreißig Minuten beschränken. Den Computer will ich stattdessen gezielt für das Lernen einsetzen.
Lernplan: Für das Mathematiklernen reserviere ich täglich eine Stunde. Das Mathegenie Oli ist bereit, jeden Freitag eine Nachhilfestunde zu geben – mit Gegenleistung, versteht sich.
Was hat das alles mit Francos Gehirn zu tun?
Jeder lernt mit seinem Kopf, das heißt mit dem eigenen Vorwissen, das an individuelle neuronale Netze gebunden ist. Auch die Lücken im Wissen und Können gehören dazu.
Bei allem, was im Temporal- und Parietallappen, das heißt im assoziativen Neocortex, geschieht, wenn wir denken und Mathematik lernen, sind weitere Bereiche aktiv:
Das limbische System gibt den Antrieb, moduliert unbewusste Wünsche, Angst und Belohnung.
Das Stirnhirn wirkt planend, steuernd und kontrollierend auf alles Lernen. Im präfrontalen Cortex (und in temporalen sowie parietalen Arealen) ist das Arbeitsgedächtnis aktiv. Im orbitofrontalen Cortex werden Pläne und das bewusste Wollen ethisch geprüft.
Dies geschieht alles gleichzeitig, zum Teil parallel, in Wechselwirkung und manchmal auch nacheinander und rekursiv, das heißt wiederholt.
Abb. 2: Am Lernen beteiligte Areale
Wir lernen mit dem ganzen Gehirn. Sichtbar ist die Großhirnrinde (Neocortex) mit Windungen (Gyrus, Gyri) und Furchen (Sulcus, Sulci) und das Kleinhirn (Cerebellum).
FC: Frontalcortex (Frontallappen) – PC: Parietalcortex (Scheitellappen) – TC: Temporalcortex (Schläfenlappen) – B: Broca-Areal (Sprachartikulation, Grammatik) – W: Wernicke-Areal (Sprache verstehen) – C: Cerebellum (Kleinhirn, Bewegungssteuerung)
Der Neocortex enthält die assoziativen Areale und neuronale Karten des Bewusstseins und Wissens. Der präfrontale Cortex plant und steuert Handlungen, Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis. Der Hippocampus ist der Einspeicherer von Inhalten in das Langzeitgedächtnis. Die Amygdala verarbeitet Furcht und Angst. Sie gehört zum limbischen System (Hippocampus, Amygdala, Cingulum, Fornix, Hypothalamus, VTA usw.), das Affekte, Gefühle und Wünsche weitgehend unbewusst verarbeitet. Das Corpus callosum verbindet mit etwa 200 Millionen Nervenfasern die beiden Gehirnhälften (Hemisphären). Das ganze Gehirn mit seinen ca. 100 Milliarden Neuronen wiegt im Schnitt etwa 1300–1500 Gramm.
Wenn Franco Lernprobleme hat, ist das natürlich nicht nur ein Gehirn-Problem, sondern ein Problem der ganzen Persönlichkeit des Jugendlichen – und oft auch seines sozialen Umfeldes. Allerdings können schon kleine Schäden oder Defizite, beispielsweise eine Unterversorgung mit dem Antriebsstoff Dopamin , im Gehirn beträchtliche Auswirkungen auf Stimmungen, Gefühle, Motivation und Leistungen haben.
Alles Lernen beruht auf Gehirnaktivität – und ist somit gehirngerecht: Wir bauen, wie bereits erwähnt, auch Missverständnisse, Vorurteile und Gewalt mit dem Gehirn auf. Man kann das Gehirn überfordern und unterfordern. Wer von seinem Gehirn einen angemessenen und optimalen Gebrauch macht, lernt gehirngerecht. Darin liegt ein normativer Anspruch: Wir können das Lernen verbessern und dergestalt die Möglichkeiten des Gehirns besser nutzen.
Beispiel:
Ruth (16-jährig) liest am Vorabend einer Geschichtsprüfung erstmals sechs Seiten im Lehrbuch, lässt nebenher das Fernsehgerät laufen, weil sie die neue Folge einer Sitcom-Serie nicht verpassen will. Im Text streicht sie alle Geschichtsdaten mit rotem, alles Wichtige mit gelbem und alle Namen mit grünem Leuchtstift an. Zwischendurch schickt sie ihrer Freundin eine SMS mit einem Hinweis auf die TV-Sendung. Sie nimmt sich vor, beim Morgenessen den Text noch schnell einmal zu »überfliegen«. Ein wenig Angst hat sie schon, denn sie ist in Geschichte auf eine ungenügende Note abgerutscht.
Читать дальше