»Whisky«, deklamierte Bacon. »An besonders beschissenen Tagen muss man besonders geiles Zeug trinken!«
Und das taten sie. Sie tranken, als würde sie das näher zueinander bringen. Aber zwischen Wingpals lag immer kaltes All.
»Ich wünschte, wir hätten Luftunterstützung«, stieß Leron hervor, er befand sich so nah an Neval, dass sie sein zitterndes Atemholen hörte. Sie mussten in der Nacht etwa zehn Kilometer zu Fuß zurücklegen, in fünf Gruppen, die von Fervin und vier weiteren Leuten mit der notwendigen Orientierung angeführt wurden. Neval war Lerons Trupp zugeteilt. Es war wichtig, dass sie in kleinen Gruppen und zu Fuß aus den Bergen in die Tiefebene hinabstiegen, denn die Gater hatten die Straßen abgeriegelt, und offroad gab es keine Möglichkeit, mit den Fahrzeugen unbeschadet an den Formen vorbeizukommen.
Die Formen – dieser gänzlich fantasielose Name hatte sich für die Lebensformen eingebürgert, die auf Valoun II entstanden waren. Es waren simple Einzeller, die auf Silicium statt Kohlenstoff beruhten und noch vor dem Terraforming des Monds für einiges Aufsehen gesorgt hatten. Doch nachdem man den spektakulären Fund einmal gründlich erforscht hatte, war nicht viel von der Faszination geblieben: Letztlich waren es korallenartige, gigantische Einzeller, die – nicht Pflanze, nicht Tier – fest am Boden verankert bis in zwanzig Meter Höhe wuchsen. Unten am Boden begannen sie zu verhärten und abzusterben und waren größtenteils staubig grau, während sie weiter oben in Farben von Ultramarinblau bis Korallenrot variierten.
Das Problem war nicht, dass die Formen feindlich waren. Neval bezweifelte, dass sie irgendeine Einstellung gegenüber irgendetwas hatten. Das Problem war, dass sie wie Erdrutsche in sich zusammenfielen, wenn sie an der Basis abstarben und dabei ganze Straßenzüge unter sich begraben konnten. Noch dramatischer war, dass sie sich mittels Zellteilung fortpflanzten. Dabei platzten sie in einer regelrechten Splitterexplosion auseinander. Eine Hälfte blieb stehen, die andere verstreute sich in Trümmern auf dem Boden. Dort, wo der Teil mit dem Zellkern auftraf, verwurzelte sich eine neue Form. Die Splitter der Formen waren wie große Brocken aus Glas: hart, teils scharfkantig und heimtückisch.
Die menschlichen Besiedlungen hatten lernen müssen, mit den Formen und ihrer Zellteilung umzugehen. Die Siedelnden wussten, wann Formen reif waren und lösten kontrollierte Zellteilungen aus oder fällten alte Formen in eine bestimmte Richtung, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten. Die Formen ganz aus dem Weg zu räumen war zu mühselig. Man musste sie sprengen, und der Zellkern war selbst dann beinahe unzerstörbar und fasste erneut auf dem splitternden Fels des Untergrunds Fuß.
Leron führte seine Truppe aus dreihundert Leuten durch ein Wäldchen aus jungen Formen, die alle noch nicht platzen würden. Dennoch waren sie vorsichtig und berührten nichts, selbst wenn Neval sich manchmal gern aufgestützt hätte. Obwohl sie körperliche Arbeit mittlerweile gewöhnt war, strapazierte der nächtliche Marsch Muskeln, die dagegen protestierten. Lerons Hund ging an einer Leine voraus – zwar war er nicht ausgebildet, Sprengstoff zu erschnüffeln, aber Leron hatte ohne mit der Wimper zu zucken gesagt, dass Sprengfallen lieber den Hund als Menschen erwischen sollten.
Das war nur logisch, trotzdem kam es ihr auf einem Mond, auf dem es nur Menschen, die Formen und das eine oder andere mitgebrachte Haustier gab, wie eine besondere Grausamkeit vor. Eigentlich sollte sie froh sein. Die anderen Gruppen hatten keine Hunde. Zwei von ihnen führten von Vaya eilig gebastelte Detektoren mit sich, die funktionieren konnten oder auch nicht.
»Wenn wir Luftunterstützung hätten, könnte die den drecksverfickten Gatern einheizen und die reifen Formen wären schon mal geplatzt, bevor wir durchkommen!«, knurrte Leron zu niemand Bestimmtem.
Deardevil hatte ihr ein knappes »Kein Interesse« gesendet, und Kian eine wortreiche Nachricht, in der er erzählte, wie leid es ihm täte. Sie wollte es gar nicht hören. Es war einfach nicht ihre beste Idee gewesen, ihn zu fragen. Sie waren als Studierende einige Monate lang ein Paar gewesen. Es war dumm und naiv von ihr gewesen. Damals und jetzt.
SisX hingegen hatte ihnen noch Informationen zukommen lassen: Das Verwaltungsgremium aus verschiedenen Konzernen, das die Interessen seiner Mitglieder auf Valoun II miteinander in Einklang brachte, hatte einen Luftschlag auf die Gaterstellungen auf der Medianhöhe weiter im Norden genehmigt, und SisX’ Abhörkünste hatten außerdem in Erfahrung gebracht, dass das Gremium davon ausging, dass Fervins Vertriebene versuchen würden, ihre Siedlung zurückzuerobern. Einem Antrag von Hadronic Inc. auf Bodentruppen war nicht stattgegeben worden.
Wir können davon ausgehen, dass sich sechshundert bis achthundert Bewaffnete in den Tunneln im Gebirge befinden. Bodentruppen dürften sich daher erübrigen , hatte die abgehörte Nachricht gelautet, die SisX ihnen weitergeleitet hatte. Sie waren also billige – und zahlenmäßig weit überschätzte – Bodentruppen für einen Konzern, der mit ihrer Entschlossenheit rechnete, ohne dafür zahlen zu müssen.
Aber es stimmte: Fervintown war ihre Heimat, und sie wollten keine dreckigen Corpcredits, um wieder dort leben zu können. Außerdem war es ihr Claim, und wenn die Corps Bodentruppen entsetzten, dann würden sie den Claim vielleicht durch irgendeinen militärisch im Gremium legitimierten Streich danach für sich beanspruchen.
»Wir haben Luftunterstützung. Wenn wir die Bodentruppen der Corps sind, sind sie die Luftunterstützung für uns«, sagte Neval, und Leron lachte grimmig.
»Hoffen wir, dass diese Info korrekt ist. Hoffen wir, dass das Timing stimmt.«
»Hoffen wir, dass sie Fervintown nicht bombardieren, sondern wirklich nur die Stellungen im Norden!«, warf eine grimmige Frau ein, die Seite an Seite mit ihrer Teenagertochter direkt hinter Neval her stapfte. Ihnen allen schlugen beim Gehen die umgeschlungenen Gaußgewehre gegen Schultern und Hüften.
Neval hasste es, das Gewicht der Waffe zu spüren. Sie alle besaßen eine, seit die Gaterangriffe immer häufiger geworden waren. Aber sie hatte ihre noch nie eingesetzt. Sie hoffte, dass sie das Gewehr mit den magnetischen Spulen, die Eisengeschosse auf verheerende Geschwindigkeiten beschleunigten, auch heute nicht benutzen musste.
Selbst wenn sie einen Schuss hätte abfeuern wollen, hätte es auf der Flucht bisher nicht einmal ein Ziel gegeben. Die schwarzen, leisen, leichten Jäger hatten sie mitten in der Nacht erwischt und als eigentlichen Feind einstürzende Häuser zurückgelassen – nichts, worauf man feuern konnte. Neval spürte immer noch die Wunde im Bein, wie ein Mahnmal dafür, dass der nächste Gegner nicht aus Schutt und Metallstangen bestehen würde.
Schließlich verließen sie das Wäldchen. Unter Plastikplanen lag ein Meer aus Hochbeeten vor ihnen. Das spärliche Licht der Taschenlampen fing sich auf der Folie.
»Hervorragend«, murmelte Leron grimmig und faltete sein Tablet ein Stückweit aus, um die Karte zu begutachten. »Dann erreichen wir die Nordwestseite vom Agrargebiet genau dann, wenn Vaya da drüben alles anzündet.«
Das war nicht wörtlich gemeint. Vayas Trupp würde die Spähposten am Siedlungsrand und die Fahrzeuge mit Sperrfeuer eindecken. Das würde die dort positionierten Gater dazu bringen, sich zu bewegen.
Wer dann alles anzünden würde, wären sie – denn auf der Nordwestseite warteten ein paar schöne reife Formen auf die Zellteilung.
Wenn Neval Glück hatte, musste sie nicht einmal auf jemanden schießen.
Der Luftschlag der Konzerne erfolgte mit geradezu beängstigender zeitlicher Präzision. Während Neval hinter einem Hochbeet verborgen das Peitschen der Gaußgewehre hörte – Vayas Trupp, der hinter jüngeren und hoffentlich noch unteilbaren Formen im Norden aus der Deckung schoss – hörte sie bereits das Dröhnen schwerer Maschinen jenseits des hügeligen Horizonts.
Читать дальше