Diese Widersprüchlichkeit tritt auch an der Frage zu Tage, welche Reichweite die aus Entwicklungsorientierter Forschung resultierenden Theorien anstreben sollten. Während etwa Prediger (2018) den lokalen Charakter der Theorien erwähnt und damit – der Aktionsforschung gleich – die ökologische Validität betont, sehen andere Autorinnen und Autoren (z.B. Barab/Squire 2004; Collins et al. 2004; McKenney/Reeves 2012:8) den Wert dieses Vorgehens gerade in der externen Validität der Forschungsergebnisse. Sie verweisen auf das Potenzial, auch solche Theorien bzw. Gestaltungsprinzipien zu formulieren, die weit über den begrenzten Kontext hinausweisen, in dem sie entstanden sind.
Diese beiden Interpretationen zur Reichweite der Theoriebildung bei Entwicklungsorientierten Forschungsprojekten schließen sich bei genauerer Betrachtung allerdings nicht aus. Es muss vielmehr von einem Kontinuum an Möglichkeiten ausgegangen werden.3 Sie sind mithin eher ein Zeichen für die Variabilität des Ansatzes. Sowohl bei den Zielsetzungen als auch bei den Gegenständen und den beteiligten Personen bieten sich verschiedenartige Konstellationen an (Cobb et al. 2003:9f; van den Akker 2013:62ff).
So kann diese Art von Forschung beispielsweise eingesetzt werden, um theoretische Prinzipien in ein konkretes Umfeld zu überführen. Diese Variante findet sich beispielsweise dann, wenn – wie bereits eingangs dieses Kapitels erwähnt – Entwicklungsorientierte Forschung in die Ausbildung angehender Lehrender integriert wird (z.B. Gess et al. 2017; Grünewald et al. 2014; Prediger 2018). Der Ansatz erfüllt in solchen Fällen in erster Linie die Funktion, den Studierenden die Relevanz wissenschaftlicher Konzepte für Belange des Unterrichtsalltags näher zu bringen und damit ihren Professionalisierungsprozess zu unterstützen.
Eine ganz andere Situation ergibt sich, wenn es zu Kooperationen zwischen Akteuren aus der Wissenschaft und der schulischen Praxis kommt, wenn also Lehrende oder auch Schulverwaltungen nach Lösungen für ein bestehendes Problem in ihrem lokalen Kontext suchen und dabei auf akademische Expertise zurückgreifen (z.B. Sloane 2014:116). Nicht nur die Zielsetzung der Entwicklungsorientierten Forschung verschiebt sich dadurch, sondern vor allem auch die Rollenverteilung der Beteiligten. Dass letztlich die Definition der Rollen aller Beteiligten auch in der Entwicklungsorientierten Forschung ein entscheidendes Moment darstellt, wie Euler (2014b:20) hervorhebt, tritt an dieser Stelle besonders deutlich zum Vorschein. So spricht prinzipiell nichts dagegen, dass Lehrende diesen Forschungsansatz selbstverantwortlich anwenden, ohne zusätzlich externe Forschende als Experten hinzuzurufen. Gerade wenn sich die Untersuchung auf die Praxis des Hochschulunterrichts selbst bezieht, liegt diese Variante natürlich besonders nahe und sie wird im Bereich der Fremdsprachendidaktik der letzten Jahre auch zunehmend praktiziert (Aguado et al. 2013; Egbert et al. 2015; Hung 2017; Moreno/Kilpatrick 2018).
Allerdings verdeutlicht diese Tendenz auch einmal mehr, wie schwierig es ist, die Entwicklungsorientierte Forschung von der Aktionsforschung abzugrenzen.4 Für die vorliegende Studie lässt sich aus diesen Überlegungen der Schluss ziehen, dass sie an der Grenze dieser beiden Forschungsansätze anzusiedeln ist. Wie ich im vorangegangenen Abschnitt zeigte, folgt sie einerseits einem aktionsforschenden Impetus. Ich wollte als Lehrer der betreffenden Klassen in Erfahrung bringen, was eigentlich die Interaktion in meinem Unterricht ausmacht und welche typischen Muster sich erkennen lassen. Es ging also zunächst um das Verstehen, Erklären und Verbessern einer konkreten unterrichtlichen Situation. Andererseits untersucht dieses Forschungsprojekt aber nicht nur, was ist, sondern auch, was sein könnte, um eine prägnante Definition Entwicklungsorientierter Forschung von Schwartz et al. (2005:2) aufzugreifen. Damit schließt sie sich deren Anspruch an, auch Vorhersagen über Lehr- und Lernprozesse zu treffen und Designprinzipien zu formulieren (Bakker 2018:8).
Die Studie macht sich somit die Synergieeffekte nutzbar, die sich durch die Grenzgänge zwischen Forschungsansätzen ergeben. Den Prinzipien der Entwicklungsorientierten Forschung folgend, bindet sie Theorien an einen konkreten Kontext, sie beschreibt, wie auf dieser Basis Innovationen entwickelt wurden und begleitet deren Umsetzung aus verschiedenen Perspektiven. Die Untersuchung soll effektive praktische Lösungen für die Integration fachorientierter Materialien in den Anfängerunterricht und für die Organisation dialogischer Lernprozesse finden. Sie soll Aufschluss darüber erbringen, in welcher Weise dieses Design in der Unterrichtspraxis wirkt. Und nicht zuletzt soll sie einen Beitrag leisten zur Theoriebildung im Bereich des fach- und sprachintegrierten Unterrichts. Und in all diesen Zielsetzungen spiegeln sich die methodischen Prinzipien Entwicklungsorientierter Forschung, wie ich sie in diesem Abschnitt nachgezeichnet habe.
2.2.5 Evaluationsforschung
Es klang bereits mehrfach an, dass noch ein weiterer Forschungsansatz Beachtung finden muss, wenn man den Charakter der vorliegenden Studie umfassend beschreiben möchte: die Evaluationsforschung1. In jener Spielart jedoch, wie sie in diesem Forschungsprojekt eingesetzt wird, gestaltet sich die Abgrenzung zu den zuvor besprochenen Forschungsansätzen als schwierig.
Der Begriff der Evaluation steht hier für eine Forschungsmaßnahme, die das untersuchte Programm über viele Jahre hinweg begleitet und dabei Erkenntnisse für dessen kontinuierliche Weiterentwicklung hervorbringt. Sie trägt also – ebenso wie die Aktionsforschung oder die Entwicklungsorientierte Forschung – deutlich iterative Züge (vgl. Gess et al. 2014). Und da die drei Forschungsansätze zugleich die große Vielfalt an möglichen methodischen Vorgehensweisen teilen, bietet sich einmal mehr der Blick auf die Rollen der Akteurinnen und Akteure an, um sie voneinander zu unterscheiden: evaluierende Forschende bewerten zwar ein Programm, aber sie sind im Unterschied zur Entwicklungsorientierten Forschung und auch zur Aktionsforschung nicht an dessen Gestaltung beteiligt. Mit dieser Definition ist zweifellos ein häufig anzutreffendes Wesensmerkmal von Evaluationen in pädagogischen Kontexten erfasst. Sie greift jedoch für die vorliegende Studie zu kurz, weshalb ich in diesem Abschnitt unser Verständnis der Evaluation und ihrer Funktion im Projekt vor dem Hintergrund der theoretischen Diskussionen zu diesem Forschungsansatz verdeutlichen möchte.
Zwei Prämissen sollten jeder Programmevaluation zugrunde liegen: Zum einen die Gewissheit, dass es kein objektives Maß für den Erfolg pädagogischer Unternehmungen geben kann – also keine „Qualität alles in allem“, wie Kromrey (2006:251) es beschreibt; und damit zum anderen das Wissen darum, dass jede Aussage über die Qualität eines Programms das Nachdenken über Sinn und Zweck der untersuchten Lehr- und Lernprozesse voraussetzt. Ohne engen Bezug zu curricularen Überlegungen fehlt einer Evaluation also der Dreh- und Angelpunkt.
Die in einem Curriculum festgehaltenen Bildungsziele entspringen pädagogischen Werturteilen, sind mithin also immer normativer Natur. Aus ihnen wird ersichtlich, welches Bild die für die Programmgestaltung Verantwortlichen von den Lernenden haben und welche Entwicklungen und Lernprozesse sie sich von ihnen erhoffen. Auch ihre Vorstellungen über die Natur des Unterrichtsgegenstandes und seine Bedeutung im Bildungsprozess werden deutlich. Nicht zuletzt lassen sich Rückschlüsse über ihre Annahmen von erfolgreichem und effektivem (Fremdsprachen)Lernen ziehen. Und selbst wenn das Curriculum eines Programms all diese Punkte ausspart und sich auf die Angabe von Unterrichtszeiten, Lerngruppengrößen, zu bearbeitenden Lehrwerken und Prüfungsformaten beschränkt, wie es im Fall des Deutschunterrichts an japanischen Universitäten häufig der Fall ist, kommen diese Werturteile implizit zum Vorschein und entfalten als Teil des hidden curriculum im Unterrichtsalltag ihre Wirkung (vgl. Jackson [1969] 2009). In Kap. 2.3 werde ich daher ausführlich auf die curricularen Grundlagen des untersuchten Unterrichts zurückkommen.
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