In der Literatur werden oft auch nicht-standardisierte Tests gebraucht, um den Sprachstand zu ermitteln. Bei mehrsprachigen Kindern wird dann eine monolinguale Vergleichsgruppe mit getestet und auf der Basis des Alters mit der/den mehrsprachigen Gruppe(n) verglichen. Die Vergleichsgrundlage ist hier das Alter, ein Umstand, der in zukünftigen Studien verändert werden sollte, da Kinder mit Hinblick auf den Sprachbeherrschungsgrad zu einem bestimmten Alter stark variieren, ganz unabhängig davon, ob sie mit einer Sprache oder mehreren Sprachen aufwachsen. Bei Grammatiktests soll der Erwerb eines grammatischen Phänomens vor dem Hintergrund einer bestimmten Fragestellung erforscht werden. Dabei entwerfen die ForscherInnen eine Spielsituation, in der dem Kind eine aktive oder passive Antwort in Bezug auf das getestete grammatische Phänomen entlockt wird. Man spricht deshalb auch von einem ElizitationstestElizitationstest. Wir werden im vorliegenden Kapitel solche Testverfahren vorstellen.
Zur Ermittlung der DominanzDominanz im mehrsprachigen Kind wurden in der Literatur unterschiedliche Messkriterien angewandt. Eines der am häufigsten verwendeten Verfahren zur Ermittlung der SprachdominanzSprachdominanz im bilingualen Kind ist die MLUMLU-DifferenzMLU-Differenz (MLUD) und die Redefluss-DifferenzRedefluss-Differenz (RFD), gemessen in Wörtern pro Minute. Bei beiden Verfahren werden zunächst der MLU bzw. der Redefluss in beiden Sprachen des Kindes separat gemessen. In einem zweiten Schritt wird dann der Wert der Sprache A von dem der Sprache B subtrahiert (vgl. MüllerMüller, Natascha et al. 2015:52ff.).
Abb. 2.5:
Redefluss-DifferenzRedefluss-Differenz (RFD): Das bilingual deutsch-italienische Kind Carlotta
Abbildung (2.5) zeigt das bilingual deutsch-italienische Kind Carlotta, das in Deutschland aufwächst, und ihren RedeflussRedefluss innerhalb des untersuchten Zeitraums von 1;8 bis 4;1. Die Linie im positiven Bereich der y-Achse stellt den in den deutschen Sprachaufnahmen erzielten RedeflussRedefluss dar, die Linie im negativen Bereich die italienischen Werte. Die Einteilung der Achse in einen positiven und einen negativen Bereich dient allein der besseren Darstellung des Vergleichs beider Sprachen. Die um Null verlaufende Linie zeigt die Redefluss-DifferenzRedefluss-Differenz. Zum Beispiel finden wir im Alter von 3;6,17 einen RedeflussRedefluss im Deutschen von 14,43 Wörtern, im Italienischen von 12,65 Wörtern pro Minute. Die Subtraktion beider Werte ergibt eine Differenz von 1,78 zugunsten des Deutschen. Das bedeutet, dass die Redefluss-DifferenzRedefluss-Differenz mit 1,78 Wörtern fast Null beträgt, die beiden Sprachen also nahezu ausgeglichen sind. Eine Tabelle, aus der hervorgeht, wann die Differenz als balanciertbalanciert bzw. unbalanciertunbalanciert interpretiert wird, findet sich in MüllerMüller, Natascha et al. (2015:68).
Oft möchte man die MLUMLU-Differenz- bzw. Redefluss-DifferenzRedefluss-Differenz nicht für jeden Datenerhebungszeitpunkt darstellen, sondern eine durchschnittliche Differenz für den gesamten Untersuchungszeitraum angeben. Für Carlotta ergibt sich als durchschnittliche Redefluss-DifferenzRedefluss-Differenz (DRFD) ein Wert von 1,60 Wörtern pro Minute zugunsten des Deutschen. Dieser Wert deutet laut MüllerMüller, Natascha et al. (2015:68) auf den Balanciertheitsgrad „(stark) balanciertbalanciert“ hin.
Wenden wir uns nun wieder dem am häufigsten verwendeten Messkriterium zu, dem MLUMLU, und im Besonderen der MLU-DifferenzMLU-Differenz. Die folgende Abbildung (2.6) zeigt den MLUMLU und die MLU-DifferenzMLU-Differenz vom bilingual deutsch-spanischen Kind Arturo. Wieder ist im positiven Bereich der y-Achse das Deutsche und im negativen die romanische Sprache, hier das Spanische, abgetragen. Die hellgraue Linie nah am Nullpunkt stellt die MLUD dar.
Abb. 2.6:
MLUMLU-DifferenzMLU-Differenz (MLUD): Das bilingual deutsch-spanische Kind Arturo
Addiert man nun alle MLUD-Werte im Zeitraum von 2;4 bis 5;4 und dividiert diese durch die Anzahl der Erhebungszeitpunkte, ergibt sich die durchschnittliche MLUD (DMLUD). Für Arturo liegt dieser Wert bei 0,83. Das ist weniger als ein Wort Unterschied in beiden Sprachen. Laut MüllerMüller, Natascha et al. (2015:63) ergibt sich eine Balanciertheit mit Tendenz, d.h. Arturo hat zwar keine dominante Sprachedominante Sprache, aber er tendiert in Richtung einer Sprache, im konkreten Fall in die des Deutschen.
Die Darstellung des Sprachbeherrschungsgrades anhand der MLUMLU-Entwicklung ist bei einem trilingualen Kind relativ unproblematisch (vgl. Kapitel 11). Die MLU-Werte für jeden Erhebungszeitpunkt bei dem trilingual mit Französisch, ItalienischItalienisch und Spanisch aufwachsenden Kind Diego wurden von Elena Scalise berechnet (vgl. Abbildung 2.7).
Abb. 2.7:
MLUMLU im Französischen, Italienischen und Spanischen: Diego
Aus der Abbildung (2.7) wird deutlich, dass der MLUMLU im Französischen zu allen Erhebungszeitpunkten (mit einer Ausnahme mit 3;6,12) die höchsten Werte erreicht. Die Werte im Italienischen liegen unter denen für das Französische. Das Spanische ist Diegos schwächste Sprache. Die DMLUD zwischen dem Französischen und Spanischen beträgt 1,01 Wörter, d.h. das Verhältnis kann laut MüllerMüller, Natascha et al. (2015:63) als unbalanciertunbalanciert (überlegen) bezeichnet werden. Die DMLUD zwischen dem Französischen und Italienischen fällt mit 0,73 Wörtern geringer aus und entspricht der Kategorie balanciertbalanciert mit Tendenz (MüllerMüller, Natascha et al. 2015:63). Die DMLUD zwischen dem Italienischen und dem Spanischen ist mit 0,28 Wörtern am geringsten; das Verhältnis kann als stark balanciertbalanciert bezeichnet werden (MüllerMüller, Natascha et al. 2015:63). An dem Verhältnis zwischen dem Italienischen und Spanischen zeigt sich nun das Problem, das mit der Sprachdominanzermittlung bei Kindern mit drei Muttersprachen (Sprache A, Sprache B, Sprache C) besteht. Ist Diego nun ein unbalanciertesunbalanciert Kind? Reicht es aus, in einer von drei Sprachen unbalanciertunbalanciert zu sein, um insgesamt als unbalanciertunbalanciert zu gelten?
Wir haben bereits erwähnt, dass in QuerschnittsstudienQuerschnittsstudie die Möglichkeit besteht, den Sprachbeherrschungsgrad über standardisierte Tests, wie den Peabody Picture Vocabulary Test Peabody Picture Vocabulary Test, zu ermitteln. Das Abschneiden im Test in den unterschiedlichen Sprachen des Kindes kann verglichen und so die SprachdominanzSprachdominanz ermittelt werden. Der Vorstellung des Peabody Picture Vocabulary Tests Peabody Picture Vocabulary Test (Kapitel 3) und dem Verfahren zur Ermittlung der SprachdominanzSprachdominanz (Kapitel 3 und 11) sind eigene Kapitel gewidmet. Wir werden im Folgenden die Grammatiktests vorstellen, die für die Ermittlung der grammatischen Kompetenz bei mehrsprachigen Kindern im Rahmen einer QuerschnittsstudieQuerschnittsstudie in Deutschland und Spanien eingesetzt wurden.
Bei mehrsprachigen Kindern sind besonders solche Grammatikbereiche von Interesse, die in den Zielsprachen unterschiedlich sind. Bei den romanischen Sprachen Französisch, Spanisch, KatalanischKatalanisch und der germanischen Sprache Deutsch sind dies u.a. attributive Adjektive, KopulaverbenKopula, die Subjektposition und die Verbstellung.
Читать дальше