Die Longitudinalstudien der trilingualen Kinder
Tabellen wie die in (2.1) werden angefertigt, um die SprachbiographienSprachbiographie der Kinder zu erfassen. Diese geben Auskunft darüber, wie häufig sie einer Sprache ausgesetzt sind. Manche Biographien sind dadurch gekennzeichnet, dass die Eltern bilingual sind (BIL), d.h. im konkreten Fall, dass sie mit dem Spanischen und Katalanischen (B=Barcelona) aufgewachsen sind, in der Interaktion mit ihrem Kind jedoch eine der beiden Sprachen verwenden, um die Sprachen im InputInput des Kindes möglichst getrennt zu halten. Ein weiterer Grund ist, dass somit sichergestellt ist, dass alle Sprachen, also auch die Umgebungssprache(n)Umgebungssprache (in HH=Hamburg und K=Köln das Deutsche, in Paris das Französische), durch die Familie unterstützt werden (können). Die SprachbiographieSprachbiographie eines mehrsprachigen Kindes wird oft mit der SprachbeherrschungSprachbeherrschung (engl. proficiency) in Zusammenhang gebracht. Auf diese und auf die zeitweise auftretende SprachdominanzSprachdominanz werden wir im folgenden Abschnitt näher eingehen. Dabei wird sich zeigen, dass der gleichzeitige Erwerb von drei Sprachen bei der Ermittlung der Sprachdominanz ein Hindernis darstellt.
2.3 Sprachdominanz und Beherrschungsgrad
SprachdominanzImmer wieder findet sich in Forschungsarbeiten zur frühkindlichen Mehrsprachigkeit die Vermengung von zwei Konzepten, die eigentlich getrennt zu halten sind. Diese sind die SprachbeherrschungSprachbeherrschung und die SprachdominanzSprachdominanz (CantoneCantone, Katja Francesca, KupischKupisch, Tanja, MüllerMüller, Natascha & SchmitzSchmitz, Katrin Monika 2008). Die Sprachbeherrschung ist wie folgt definiert und kann auf unterschiedliche Weise gemessen werden (vgl. CantoneCantone, Katja Francesca et al. 2008 für mehrere Messkriterien):
[…] we will henceforth use the term proficiency when looking at the overall linguistic proficiency from a more general perspective. Proficiency, in the present study, is measured in terms of MLUMLU (mean length of utterance). (SchmeißerSchmeißer, Anika, HagerHager, Malin, Arnaus GilArnaus Gil, Laia, JansenJansen, Veronika, GevelerGeveler, Jasmin, EichlerEichler, Nadine,Eichler, Nadine PatutoPatuto, Marisa & MüllerMüller, Natascha 2016:38)
Proficiency bezieht sich auf den Beherrschungsgrad einer Sprache des bilingualen Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum, die beispielsweise mittels der durchschnittlichen Äußerungslänge (MLUMLU, engl. Mean Length of Utterance ), der Lexikongröße oder des Redeflusses (Redegeschwindigkeit pro Minute) gemessen werden kann. Die SprachdominanzSprachdominanz hingegen bezeichnet das Verhältnis zweier oder mehrerer Muttersprachen im mehrsprachigen Kind, d.h. in welchem Verhältnis ihre Beherrschung steht. SchmeißerSchmeißer, Anika et al. (2016b:38) definieren Sprachdominanz als „[…] the difference in proficiency in a bilingual’s two languages.“ Kommt man bei einem mehrsprachigen Kind zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis der Sprachen nicht ausgewogen ist, also eine SprachdominanzSprachdominanz vorliegt, bedeutet dies noch lange nicht, dass die schwächere Spracheschwache Sprache auch im Vergleich zu einer monolingualen Vergleichsgruppe weniger gut ausfällt. CantoneCantone, Katja Francesca et al. (2008) folgern daraus, dass das Wissen um eine Norm notwendig ist, d.h. es muss bekannt sein, welcher Beherrschungsgrad normal ist und welcher als über- bzw. unterdurchschnittlich zu bewerten ist.
Die SprachdominanzSprachdominanz gibt an, dass eine Sprache mit Hinblick auf ein beliebiges Messkriterium höhere Werte aufweist als die andere(n). Die SprachbeherrschungSprachbeherrschung gibt den Beherrschungsgrad einer Sprache an, oft im Vergleich zu einer Norm.
Die folgenden Abschnitte widmen sich den unterschiedlichen Messkriterien für die SprachbeherrschungSprachbeherrschung mehrsprachiger Kinder.
2.3.1 Ermittlung der Sprachbeherrschung in Longitudinal- und Querschnittsstudien
SprachbeherrschungQuerschnittsstudieDer Sprachbeherrschungsgrad wird in den allermeisten Studien über die durchschnittliche Äußerungslänge ermittelt. Sie ermöglicht einen altersunabhängigen Vergleich zwischen den Probanden, da Altersunterschiede in der Sprachentwicklung alltäglich sind. Die Abbildung (2.3) zeigt die Entwicklung des MLUMLU im Spanischen bei dem trilingualen Kind Frank (vgl. Tabelle 2.1). Auf der y-Achse ist die durchschnittliche Äußerungslänge in Wörtern, auf der x-Achse das Alter des Kindes abgetragen. So erreicht Frank im Alter von 3;8,15 eine durchschnittliche Äußerungslänge von 3,17, seine Äußerungen sind also im Spanischen etwas länger als drei Wörter. Zur Berechnung des MLUMLU verweisen wir auf MüllerMüller, Natascha et al. (2015:49f.).
Abb. 2.3:
MLUMLU im Spanischen: Frank
Aus der Abbildung (2.3) wird deutlich, dass der MLUMLU stetig ansteigt. Um den Sprachbeherrschungsgrad als normal, über- oder unterdurchschnittlich einschätzen zu können, wird dieser bei Frank gemessene mit dem weiterer mehrsprachiger Kinder verglichen, die ebenso wie Frank mit Spanisch als eine ihrer Erstsprachen aufwachsen. Diesen interindividuellen Vergleich zeigt die Abbildung (2.4).
Abb. 2.4:
MLUMLU im Spanischen: Frank im Vergleich zu fünf bilingual deutsch-spanischen Kindern (in Anlehnung an SchmeißerSchmeißer, Anika et al. 2016b:59)
Der Vergleich der MLUMLU-Entwicklung im Spanischen von fünf bilingual deutsch-spanisch aufwachsenden Kindern (Arturo und Teresa wachsen in Deutschland, Lucas, Erik und Nora in Spanien auf) und der vom trilingualen Kind Frank zeigt, dass die Werte für Frank oft niedrig, phasenweise sogar am niedrigsten sind. Selbstverständlich muss die MLU-Entwicklung von Frank mit einer größeren Anzahl an mehrsprachigen Kindern verglichen werden. Aus dieser Graphik dürfen wir ableiten, dass seine Entwicklung im Spanischen unterdurchschnittlich bis durchschnittlich ist (vgl. 11.2).
Auch in einer QuerschnittsstudieQuerschnittsstudie gibt es Möglichkeiten, den Sprachbeherrschungsgrad der Probanden unabhängig vom Alter zu ermitteln, um dann die Probanden auf dieser Basis miteinander zu vergleichen. Obwohl eine Messung anhand des MLUMLU durchaus möglich ist und manchmal in der Literatur verfolgt wurde (vgl. MüllerMüller, Natascha et al. 2015:104ff.), erschwert die Tatsache, dass eine Spontanaufnahme eines jeden Probanden dafür notwendig ist, die mindestens 100 Äußerungen aufweist (vgl. BrownBrown, Roger 1973), die Anwendung dieses Kriteriums auf in einer Querschnittsstudie gewonnene Daten. Aus diesem Grund greift man im Fall einer Querschnittsstudie gern auf standardisierte Verfahren zur Sprachkompetenzmessung zurück. Ein solches standardisiertes Verfahren ist der rezeptive Wortschatztest Peabody Picture Vocabulary Test Peabody Picture Vocabulary Test (PPVTPPVT), den wir in Kapitel 3 ausführlich vorstellen werden. Bei mehrsprachigen Kindern stößt die Anwendung dieses Tests jedoch auch auf Probleme, sobald man mehrere Sprachen der Kinder untersuchen möchte. Oftmals liegen die standardisierten Testverfahren nur in einer Sprache vor, so dass die Entwicklung in den anderen Sprachen unbekannt bleibt. Anders ist die Situation beim Peabody Picture Vocabulary Test Peabody Picture Vocabulary Test, der in mehreren Sprachen vorliegt und es ermöglicht, den rezeptiven Wortschatz von Kindern im Deutschen, EnglischenEnglisch, Französischen und Spanischen zu messen. Jedoch fehlen in vielen Fällen Informationen zur NormierungsstichprobeNormierungsstichprobe, d.h. Informationen zu derjenigen Probandengruppe, auf deren Basis der Test normiert wurde. Besteht die Normierungsstichprobe für eine Sprache vornehmlich aus monolingualen Kindern, so muss man sich dessen bewusst sein, dass die Anwendung des Tests auf mehrsprachige Kinder den Vergleich mit einer monolingualen Norm darstellt. Ein unterdurchschnittliches Abschneiden kann dann den Grund haben, dass die gemessenen mehrsprachigen Kinder tatsächlich unterdurchschnittlich sind oder aber, dass die falsche Norm, nämlich eine monolinguale, als Messlatte angelegt wurde. Ein weiteres Problem bei der Testung von mehrsprachigen Kindern ist, dass dasselbe Testverfahren in den unterschiedlichen Sprachen verwendet wird. Einerseits muss es dasselbe sein, um später den Grad der SprachbeherrschungSprachbeherrschung wirklich vergleichen zu können, andererseits besteht die Gefahr eines Gewöhnungseffekts. Deshalb versucht man, die Testungen in den verschiedenen Sprachen nicht an einem Tag zu erledigen, was natürlich einen größeren Aufwand für die Datenerhebung darstellt.
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