Abb. 2:
Modell professioneller Handlungskompetenz – Professionswissen (Baumert/Kunter 2006: 482).
Die Diskussion um pädagogisches Wissen und Wissensdomänen maßgeblich beeinflusst haben zwei Jahrzehnte zuvor die Arbeiten von Shulman (1986, 1987). Er arbeitet heraus, dass noch im 19. Jahrhundert das Handeln und die Qualifikation von Lehrkräften maßgeblich durch ihr Inhaltswissen („knowledge of content“; Shulman 1986: 7) geprägt war, während zur Zeit seiner Beiträge in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts primär Fragen des Classroom managements im Fokus von Praxis und Forschung geraten waren. Dadurch sei in den Hintergrund gerückt, woher das Wissen der Lehrkräfte stamme und wie sie ihr unterrichtliches Handeln mit Fachwissen begründen oder auch in welchem Verhältnis es zu allgemein-pädagogischem Wissen steht. 1987 führte er die folgenden Wissensbereiche als essentiell für das Lehrerhandeln auf (vgl. Shulman 1987: 8):
Fachwissen (content knowledge),
allgemein-pädagogisches Wissen (general pedagogical knowledge),
curriculares Wissen (curriculum knowledge),
fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge),
Wissen über Lernende und ihre Eigenschaften (knowledge of learners and their characteristics),
Wissen über pädagogische Kontexte (knowledge of educational contexts),
Wissen über pädagogische Ziele und Werte (knowledge of educational ends, purposes, and values, and their philosophical and historical grounds).
Um die Bedeutung der Verknüpfung zwischen Fach- und fachdidaktischem Wissen wiederherzustellen, gestand Shulman in seiner Konzeption einer pädagogischen Wissensbasis dem fachdidaktischen Wissen einen großen Raum ein. Er prägte damit die Idee des Pedagogical content knowledge . Dieses Wissen beinhaltet für Shulman dementsprechend nicht nur die bedeutendsten fachwissenschaftlichen Konzepte eines Unterrichtsfaches, sondern auch umfängliches Wissen über dessen methodisch-didaktische Zugänge, zugeschnitten und möglichst variabel einsetzbar für verschiedene Zielgruppen von Lernenden (d.h. verschiedene Altersstufen, Vorkenntnisse, Ziele).1 Grob strukturiert wird dieses Wissen durch curriculares Wissen, welches durch Vorgaben bestimmte Inhalte und Themen vorgibt, wodurch wiederum den Lehrkräften diverse Materialien zur Verfügung stehen, welche sie möglichst flexibel, begründet über ihr fachdidaktisches Wissen, einsetzen (vgl. Shulman 1986, 1987).
Als eine der Wissensgrundlagen in der universitären Lehrerbildung dient primär (erziehungs-)wissenschaftliches Wissen, welches jedoch nicht direkt auf die Praxis übertragen werden kann (vgl. Radtke 1996, Neuweg 2004/2014). Hierdurch wird das vielzitierte Theorie-Praxis-Problem häufig von Seiten der Lehramtsstudierenden aufgeworfen, da ein Anwendungsbezug im Sinne eines reflektierenden Transformierens von Wissen nicht erfolgt.
Bezüglich der innerhalb von Lehrerbildung gültigen, vermittelten, oder besser: putativ vermittelbaren, Wissensstrukturen wird demnach hinterfragt, welche Wissensbestände tatsächlich für die Praxis wirksam sein können. Im Gesamtzusammenhang von Wissensforschung und wissenssoziologischen Ansätzen, die dann das Wissen von Lehrkräften (und die Umsetzung dessen in praktischem Handeln) untersuchen, wird gerade dann die Bedeutung impliziten Wissens wiederholt herausgestellt, da wissenssoziologisch davon ausgegangen wird, dass gerade implizites Wissen als handlungsleitend gilt (vgl. Mannheim 1964, Bohnsack 2017). Auch im Anschluss an Polany (2016) betont Neuweg (2004, 2014) wiederholt, dass Professionelle auf impliziter Ebene mehr wissen, ebenfalls routiniertes Handlungswissen entwickelt haben, als sie explizit zu formulieren im Stande wären (vgl. auch Shulman 1987). Er definiert innerhalb dreier Kategorien von Lernen, Wissen und Handeln drei Begriffe von Lehrerwissen (s. Abbildung 3; vgl. Neuweg 2014), von denen erstes gewissermaßen das (universitäre, fachliche, fachdidaktische und pädagogische) Ausbildungswissen darstellt, das „gelernt“ werden kann, gleichzeitig aber durch Erfahrungslernen geprägt ist und wird. Dieses Wissen wiederum formt sich im zweiten Wissenskonzept als mentale Struktur und „psychologisches Konstrukt“ (ebd.: 584): Hier formieren sich explizites und implizites Wissen, informiert und prägt sich gegenseitig, ist aber – wie angedeutet – insbesondere auf impliziter Ebene nicht direkt greifbar. Beide Wissensformen wiederum können sich im Handeln, „Wissen 3“ nach Neuweg (vgl. Abbildung 3), und hier in bestimmten Handlungsepisoden äußern, welche sich im Sinne eines Könnens zeigen, welches aber dann empirisch hingegen von außen mittels anderer Wissensbestände von Forschenden rekonstruiert und interpretiert wird.
Abb. 3:
Konzepte des „Lehrerwissens“ (Neuweg 2014: 585).
Lehrer*innenwissen ist folglich nicht nur ein komplexes Konstrukt, es ist zudem für Forschung nur schwer greifbar, was wiederum Lehrerbildung und Lehrerprofessionalisierung im Bereich des Herausarbeitens oder Förderns von Professionswissen vor Herausforderungen stellt: „Beim Lehrerwissen in diesem Sinne [Wissen 3; Anmerkung D.G.] handelt es sich aber nicht um das Wissen des Lehrers, sondern um das Wissen des Forschers, der die Logik des Handelns (!) von außen rekonstruiert.“ (ebd.: 585; Hervorhebung im Original) Für Neuweg ist dementsprechend das Theorie-Praxis-Problem die Differenz zwischen Wissen 1 und 3, gleichzeitig betont er, dass für alle drei Wissensformen aus inhaltlicher (lehrerbildender) wie empirischer Perspektive bislang nur unbefriedigende Ergebnisse vorliegen – trotz großer Erhebungen sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Forschungsparadigma und ebenso besonders im Umgang mit der Wissenskonzeptbildung und definitorischer (Un-)Schärfe: „Die Lehrerwissensforschung umgeht das Problem bisweilen rhetorisch.“ (ebd.: 600) Hierdurch verschwimmen für Neuweg viel zu häufig die Grenzen zwischen Wissen, Kompetenz, Handeln und Können.
Außerdem gilt über verschiedene professionelle Wissensbestände und Kompetenzen auch: „Professionalität im Lehrerberuf meint mehr als das Erreichen eines bestimmten Niveaus an professioneller Handlungskompetenz.“ (Cramer 2012: 520) Aus diesem Grund werden innerhalb des kompetenztheoretischen Bestimmungsansatzes in der Regel ebenfalls lehrerpersönlichkeitsrelevante Aspekte herausgestellt, finden sich wieder z.B. in den Modellierungen von Baumert/Kunter (2006, 2011) sowie bei Helmke (2015) mitsamt Überzeugungen, Haltungen und Glaubenssätzen (Beliefs) , welche wiederum Handeln beeinflussen (können).2 Diese wiederum werden – und das wird auch von Vertreterinnen und Vertretern innerhalb des kompetenztheoretischen Ansatzes geteilt – durch persönliche (berufs-)biographische Erfahrungen maßgeblich geprägt und leiten damit hier über zu einem weiteren, möglichen Bestimmungsansatz für Lehrerprofessionalität und -professionalisierung.
2.1.3 Berufsbiographischer Bestimmungsansatz
Von erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung ausgehend, dass „Erziehung und Bildung grundsätzlich im Kontext von konkreten Lebensläufen stattfindet“ (Marotzki 1999: 327), wird in einem berufsbiographischen Bestimmungsansatz von Lehrerprofessionalität zentral gestellt, dass diese als „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart 2001: 56) zu konzeptualisieren sei, welches einer Bearbeitung und reflexiven Einholung bedarf (vgl. auch Kunze/Stelmaszyk 2008). Durch eine von verschiedenen Phasen geprägte, gleichzeitig von eigenen früheren Schulerfahrungen beeinflusste Tätigkeit (vgl. z.B. Lortie 1975), die mit ständigen Herausforderungen, nötigen Entwicklungen und unabwendbaren Krisen behaftet ist, bedeutet professionelles Lehrerhandeln, sich dieser Erfahrungen, Brüche, aber auch dem eigenen Wissen und Können bewusst zu werden und sie entsprechend professionell zu bearbeiten.
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