2.1 Bestimmungsansätze zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften
Im Folgenden werden die zentralen und aktuell diskutierten Ansätze erziehungswissenschaftlicher und schulpädagogischer Professionsforschung in Anlehnung an Terharts Differenzierung (2011) vorgestellt.1 Er unterteilt die gegenwärtigen Strömungen primär in 1. strukturtheoretische, 2. kompetenztheoretische sowie 3. berufsbiographische Bestimmungsansätze. Bestimmungsansatz nennt es Terhart insbesondere, da er herausarbeitet, dass die Lehrerprofessionsforschung sich darum bemüht, sich selbst zu bestimmen, „also ohne Fixierung auf das theoretisch und empirisch zunehmend obsolete klassische Professionen-Konzept“ (ebd.: 205), das sich stets im Vergleich zu etablierten Professionen wie Juristen und Medizinern sah. Auch wenn diese Aufteilung in drei Bestimmungsansätze sicherlich nicht unumstritten ist2, fasst sie doch die primär im deutschsprachigen Raum vorherrschenden theoretischen Grundlagen für Lehrerprofessionsforschung zusammen. Ziel bei der Darstellung dieser teils gegenseitig recht kritisch rezipierten theoretischen Deutungen von Lehrerprofessionalität ist es, die jeweiligen Grundpositionen darzustellen, um deren Relevanz auch für das vorliegende Forschungsvorhaben deutlich zu machen und im Rahmen der Untersuchung und Analyse hierauf zurückgreifen zu können. Außerdem sollen diese dominierenden Ansätze der allgemein-schulpädagogischen Professionsforschung vor dem Hintergrund der noch vorzustellenden fremdsprachendidaktisch orientierten Professionsforschung in einen gemeinsamen Kontext gesetzt und damit für das Vorhaben in ihrer Relevanz und Deutungsgewalt herausgestellt werden. Ein dabei besonders zu berücksichtigender Aspekt sollte die Rolle von aktiv an Lehrerbildung teilnehmenden Institutionen, Strukturen bzw. Professionellen, d.h. Lehrerbildner*innen, sein, da der Fokus später auf maßgeblich an der Fremdsprachenlehrerbildung im Vorbereitungsdienst beteiligten Personal liegen wird.
2.1.1 Strukturtheoretischer Bestimmungsansatz
Strukturtheoretische Deutungsansätze professionellen Handelns sehen als Aufgabe, eine Struktur bzw. die einzelnen Ebenen und Akteure sowie ihr Verhältnis zueinander innerhalb einer Struktur zu verstehen und zu deuten, auf Basis theoretischer Konzepte dieses Handeln zu interpretieren. Handlungen und Spannungen in der Praxis sind hier also daher nicht als intentional zu sehen, sondern als Folge bestimmter Strukturen, wie es soziologisch z.B. von Parsons mit der struktur-funktionalen Theorie (z.B. 1968) beschrieben wurde. In einer Struktur wie der Schule, die für Parsons ein soziales System darstellt, erlernen die (inter-)agierenden Personen bestimmte Rollen, die mit bestimmten Erwartungen konnotiert sind, welche wiederum an die Struktur und die Funktionen der einzelnen Elemente des Systems gebunden sind.1
Einer der bekanntesten Vertreter dieser Position ist Oevermann (1996, 2008), der Lehrerhandeln begründet auf Basis eines therapeutischen, d.h. der Automieförderung zugewandten Professionsverständnisses. Lehrende bauen demnach in ihrer spezifischen Rolle ein diffuses Verhältnis zu ihren Klienten auf, den Lernenden als ganze Personen. In dieser Beziehung sind letztere noch nicht voll in ihrer Rolle entwickelt, nicht autonom und selbstbestimmt, sodass dieses Arbeitsbündnis neben der ohnehin stattfindenden Vermittlung von Wissen und Normen ständig reflektiert und neu definiert werden muss. Die Interaktion von Lehrkräften und Lernenden ist dann durch Routinen dieser Wissens-, Normen- und/oder Kompetenzförderung geprägt. Dieses Verhältnis gerät dann in eine „Krise“, wenn Routinen unterbrochen werden oder in einer bestimmten Situation fehlen bzw. nicht anwendbar sind. Oevermann (2008) versteht in diesem Zusammenhang, dass „die Krise der Normalfall ist und die Routine der Grenzfall“ (ebd.: 57), sodass ein analytisches Vorgehen z.B. durch eine Fallanalyse im pädagogischen Alltag Bestandteil professionellen Handelns wird bzw. im Sinne einer Professionalisierung werden sollte. Eine Krise kann somit als Anlass genommen werden, die Situation auf Basis des persönlichen Deutungswissens zu interpretieren und im Rahmen des „Arbeitsbündnisses“ – eines bewusst psychosozialen/-analytisch gewählten Begriffes des Verhältnisses zwischen Lehrendem und Lernendem, das zudem durch die Schulpflicht „erzwungen“ wird – zwischen den beiden Agierenden eine neue Routine zu entwickeln.
Tritt z.B. in einer – hier zum Zwecke der beispielhaften Darstellung unspezifizierten Unterrichtssituation – ein Mangel an Wissen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu Tage, kann die Lehrperson in dieser Krise Lösungsmöglichkeiten anbieten, um diese zu bewältigen. Die Krise besteht in diesem Zusammenhang aber auch in dem Widerspruch diffuser und spezifischer Sozialbeziehungen (vgl. Oevermann 1996), die zwischen Lehrperson und Schülerin/Schüler bestehen und damit einer Professionalisierung bedürfen: Inwieweit kommt die Lehrperson dem/der Lernenden entgegen? Entmündigt die Lehrperson den Schüler/die Schülerin möglicherweise in seiner Selbständigkeit und lebenspraktischen Autonomie als Individuum, indem das Wissen direkt vorgelegt wird, ohne vielleicht ein selbständiges, methodisches Lösen des Wissensdefizits zu evozieren?
Oevermann unterscheidet hier zwischen ingenieuralem Wissen, das in der pädagogischen Arbeit deduktiv Lösungen anbietet und begründet, sowie interventionspraktischem Wissen, welches sowohl standardisiertes Methodenwissen einbezieht (äußert sich in „Routine par excellence“ im alltäglichen Unterricht; vgl. Oevermann 2008: 59) wie auch das eher therapeutisch-intervenierende Wissen, das primär klientenzentriert ist und „die konkrete historische Lage und Situation des Klienten … rekonstruieren muss“ (ebd.). In diesem Zusammenhang definiert und unterscheidet Oevermann die Begriffe Lernen und Bildung, sodass ersteres auf der Vermittlung standardisierten Wissens fußt („Primat der Wissensvermittlung“, Oevermann 1996: 142), während „Bildung immer Krisenlösung und damit das Gegenteil von Routine“ (Oevermann 2008: 59) ist. Neben dem Primat der Wissensvermittlung beinhalte pädagogisches Handeln allerdings auch immer „Erziehen“,
weil die anlässlich der Wissens- und Normenvermittlung notwendig werdenden Lehrer-Schüler-Beziehungen angesichts … der Ungefestigtheit von Autonomie und Rollenhandlungsfähigkeit des Schülers in dieser Phase immer auch folgenreich sind für die Entwicklung des Schülers als ganzer Person. (Oevermann 1996: 147)
Bezugnehmend auf die Tatsache, dass ein therapeutisch-professionelles Handeln voraussetzt, dass vom Klienten eine gewisse „Freiwilligkeit“ ausgeht, sich therapieren zu lassen – d.h. dass Schülerinnen und Schüler von sich aus lern- und bildungswillig sind –, ist Oevermanns zentraler Kritikpunkt die deutsche Schulpflicht. Diese sieht er als mittlerweile obsolet an, da sie Pädagoginnen/Pädagogen und Kinder in ein erzwungenes Arbeitsbündnis bringt mit der Folge, „dass dem Kind die Neugierde als Hauptmotiv dafür, in der Schule zu sein, aberkannt wird“ (ebd.: 66). Darüber hinaus sieht er es als soziologisch und gesellschaftlich begründet an, dass spätestens zum aktuellen Grundschulalter der Kinder bereits in der Familie quasi automatisch die Krise entsteht, dass die Kinder die hochkomplexen Prozesse des Lesens, Schreiben und Rechnens erlernen müssen, um an der Gesellschaft teilhaben zu können. Da die Struktur der Familie dies nicht alleine bewerkstelligen kann, benötigt man ab diesem Zeitpunkt Lehrerinnen und Lehrer, die dieses Wissen vermitteln. In diesem Zusammenhang spricht Oevermann von Experten, was jedoch noch keine Professionalität ausmache. Diese sei erst durch eine fallorientiert-hermeneutische Lösungserarbeitung von Krisen und z.B. pädagogisch-erzieherischen Herausforderungen in der (Wieder-)Herstellung von Autonomie gegeben (1996, 2008).
Читать дальше