Le quartier Montparnasse a conservé sa physionomie paisible, avec ses artistes, ses philosophes dont les cheveux gris extravaguent sous le chapeau de forme haute. Au quartier Latin on rencontre encore parfois des rêveurs amoureux de beaux livres et de belles estampes. Montmartre est toujours aussi bruyant et la rue de Rivoli avec les Magasins du Louvre, est redevenue le quartier des touristes, des nouveaux riches en quête de luxe, et des lunes de miel classiques. (138f.)
Zur Kulisse des urbanen Pariser Lebens gehören auch ikonische Gebrauchs- und Luxusgegenstände, die die Bedürfnisse der modernen Franzosen sichtbar machen und die für das damalige Publikum Wiedererkennungswert hatten. Die surrealistischen Werbelandschaften lesen sich wie Topographien des Verlangens, sie sind Ausdruck des modernen Mythos der Großstadt Paris. In einem Brief an Simone Kahn erklärte Breton, das Stück S’il vous plaît habe „la prétention de poser le problème de la séduction“ und habe im zweiten Akt die „séduction commerciale = réclame“6 zum Thema. In der Reklame manifestiert sich die zunehmende Irruption des Ökonomischen in den Lebensraum des Menschen. Die Werbung ist die Antwort auf ein inneres Begehren des satten Städters, die Werbeplakate repräsentieren seine noch nicht formulierten Wünsche, schüren seine Sehnsüchte und verführen ihn mit dem Versprechen auf ein besseres und komfortableres Leben. So ist in den surrealistischen Stücken beispielsweise die Rede von Pigeon-Lampen und der Seifenmarke Cadum ( Vous m’oublierez ), von Hosenträgern der Marke Lido, Babynahrung von Nestlé, Pirelli-Reifen, Fahrrädern der Marke La Française und von der Schuhcreme Lion Noir ( Au pied du mur , das 1924 veröffentlicht wurde), von Sèvres-Vasen, Baccarat-Gläsern und einem Stärkungsmittel der Marke Lefranc ( Victor ou les enfants au pouvoir , uraufgeführt im Jahr 1928), von einem Ofen der Marke Salamandre ( Les mystères de l’amour , veröffentlicht im Jahr 1924) und Phonographen ( La place de l’étoile ).
Ein surrealistischer Prototyp ist der Flaneur, der sich dem geschäftigen Arbeitsleben entzieht und, für alle Eventualitäten offen, durch die Straßen streift auf der Suche nach wunderbaren Begegnungen. So lobt der Detektiv Létoile in S’il vous plaît die Faulheit als eine Tugend:
On meurt jeune maintenant. La faute en est aux conditions de l’existence qui ont changé. Nous nous surmenons; la vie trop active épuise nos forces. Faisons donc entendre d’autres sons de cloches, ceux-ci joyeux et réconfortants, ce que nous appellerons le joyeux carillon de la paresse, c’est-à-dire l’inutilité des efforts. (118)
Die Surrealisten waren auf der Suche nach neuen Mythen, die es vermochten, den veränderten Geist einer modernen Welt zu erfassen. Dieses Bestreben war eng verbunden mit einer Suche nach dem „merveilleux“ im urbanen Alltag der Surrealisten, der genug Stoff für eine neue Mythenbildung bot. In den surrealistischen Theaterstücken spielt deshalb die Stadt Paris mit ihren Flaneuren, Reklamen, Luxusprodukten und öffentlichen Räumen, die zu Orten für wunderbare Begegnungen wurden, eine große Rolle. Letztendlich ist der Surrealismus, so Asholt7, selbst zum modernen Mythos geworden, indem er versucht hat, die permanente Revolutionskunst zu realisieren.
Peter Bürger hat die Collage zum „Grundprinzip avantgardistischer Kunst“1 erklärt. Der Begriff der Collage/Montage stammt aus der Industrie, wo er auf die Zusammenführung von vorgefertigten Einzelteilen zu einem gebrauchsfähigen Objekt verweist. Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Begriff in die Künste übergetreten und hat dort seinen Durchbruch mit der historischen Avantgarde erfahren, allen voran mit den Kubisten Braque und Picasso. In diesem Kontext bezeichnet die Collage die Übernahme von bereits existierendem Material in die Kunst (Malerei, Literatur, Theater etc.) auf solche Art und Weise, dass seine ursprüngliche Verwendung sowie sein Wesensunterschied zu den vom Künstler selbst angefertigten Elementen noch erkennbar bleiben.
Die Collage ist eine Reaktion auf die moderne Welt, in der das Nebeneinander disparater Objekte, Ideen und Wahrheiten alltäglich geworden war. Hugo von Hofmannsthal hat dieser Sensibilität in seinem berühmten fiktiven Brief von 1902 Ausdruck verliehen, in dem Philipp Lord Chandos an Francis Bacon schreibt, um die lange Pause in seinem kreativen Schaffen zu entschuldigen. In dem Brief berichtet er von seiner Unfähigkeit, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“2 War die Realität für Lord Chandos einst noch mit Sicherheit erfassbar gewesen, ist sie für ihn nun trügerisch und fragmenthaft geworden: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.“3 Der Brief greift das im auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschende Gefühl auf, dass die Wirklichkeit nicht mehr zu bewältigen ist. Die Collage ist so heterogen und fragmenthaft wie die moderne Welt, die nicht mehr als einheitliches Ganzes abgebildet werden kann. Indem die Wirklichkeit hier nicht mehr einfach nur imitiert, sondern direkt in das Kunstwerk übernommen wird, erteilt die Collage dem Ästhetizismus eine Absage. Sie ist, so Aragon, „porte de sortie de l’art pour l’art“4 sowie „la reconnaissance par le peintre de l’inimitable, et le point de départ d’une organisation de la peinture à partir de ce que le peintre renonce à imiter“5. Die Auflösung der Wirklichkeit reicht so weit, dass auch das eigene Ich keine sichere Realität mehr ist. Die Aufweichung der Identität ist ein Leitmotiv in vielen surrealistischen Stücken. So kann die Identität einer Figur unklar sein oder eine Figur kann mehrere Identitäten auf einmal besitzen, wie z.B. Pierre/Frédéric/Sprecher in Au pied du mur , Dovic/Lloyd George in Les mystères de l‘amour , der Maler/M. Parchemin in Le Peintre (1922 veröffentlicht) oder der geisterhafte Gérard in La place de l’étoile .
Die Beziehung zwischen Kunst und Nicht-Kunst wird in der Collage hinterfragt: einerseits wird das collagierte Material zu Kunst aufgewertet, andererseits wird das Kunstwerk durch die Übernahme von alltäglichen Gegenständen abgewertet. Die Collage negiert damit auch die Idee des genialen Schöpfers, denn der Künstler wird nun zum Organisator von Material, und es zählen nicht mehr seine individuellen technischen und kreativen Fähigkeiten, sondern seine „personnalité du choix“6. Auch das collagierte Kunstwerk verliert seine Organizität und Aura, als ein aus Alltäglichem zusammengesetztes Gebilde negiert es die Kunst selbst. Die Surrealisten haben das Banale in die Kunst eingeführt, die scheinbar triviale Realität bot sich ihnen als unendlicher Quell poetischer Schöpfung an. In den surrealistischen Stücken bricht die Realität auf die Bühne und irritiert den Zuschauer, der sich auf die Bühnenillusion eingelassen hat. So werden oft am Aufführungsprozess zwar beteiligte, aber für den Zuschauer normalerweise unsichtbare Akteure gezeigt, wie z.B. Bühnentechniker, Souffleure, Autoren, Regisseure, Zuschauer und Schauspieler. Auch real existierende Personen wie Théodore Fraenkel in L’Armoire à glace un beau soir (1922/23 verfasst) und Musidora in Le trésor des jésuites sollen auftreten. Gesellschaft und Kunst, Politik und Theater vermischen sich in den surrealistischen Stücken.7
In der Collage findet eine Juxtaposition disparater Realitäten statt, die aus ihren alten Zusammenhängen herausgerissen wurden und nun neue Beziehungen zueinander knüpfen. Die Affinität der Surrealisten zur Collage ist unter anderem auf Lautréamont und Pierre Reverdy zurückzuführen, die die Grundlagen der surrealistischen Bildtheorie geliefert haben. In Les chants de Maldoror (1869) schrieb Lautréamont, das Aufeinandertreffen zwei entfernter Realitäten sei „beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie!“8 Die Nähmaschine und der Regenschirm sind häufig auftretende Motive in den surrealistischen Stücken, wie z.B. in S’il vous plaît , Victor ou les enfants au pouvoir oder Le désir attrapé par la queue (1941 verfasst) . Analog zu Lautréamonts Bildkonzeption schrieb Reverdy einige Jahrzehnte später in der Literaturzeitschrift Nord-Sud (1918):
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