Die im Jahr 1919 von Breton, Aragon und Soupault gegründete Zeitschrift Littérature war das Organ der vorsurrealistischen Gruppe. Der ironisch gemeinte Titel basiert auf einem Zitat Verlaines aus dem Gedicht L’Art poétique („Et tout le reste est littérature“), verweist aber dennoch auf die literarischen Wurzeln des Surrealismus.
Im Jahr 1924 wurde Littérature dann von der Zeitschrift La Révolution surréaliste abgelöst, ein Titel, der auf eine zunehmend anti-literarische, anti-künstlerische Tendenz innerhalb der surrealistischen Bewegung verweist. Ab Mitte der 1920er Jahre stellt sich für die Surrealisten immer dringlicher die Frage nach einem politischen Engagement, das sie schließlich 1927 mit ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei verwirklichen. In Au grand jour (1927) heben sie die Konkordanz zwischen Surrealismus und Kommunismus hervor und verurteilen die ehemaligen Weggefährten Soupault und Artaud aufgrund ihrer „poursuite isolée de la stupide aventure littéraire“11. Die Surrealisten befinden sich in einer schwierigen Phase zwischen Selbstauflösung innerhalb der Kommunistischen Partei und Rückkehr in ihre wirkungslose, weil selbstgenügsame und ästhetizistische, Ausgangsphase. Trotz dieser Schwierigkeiten blühte die Produktion surrealistischer Texte in dieser Zeit.
La révolution surréaliste wurde 1930 von einer neuen Zeitschrift, Le surréalisme au service de la révolution , abgelöst. Im selben Jahr veröffentlichte Breton das Second manifeste du surréalisme , in dem der Surrealismus auf einen strengeren Kurs eingenordet und von Elementen, die der surrealistischen Sache nicht dienlich waren, befreit werden sollte. Hierzu gehören auch die Abrechnung Bretons mit ehemaligen Gruppenmitgliedern (Soupault, Vitrac, Artaud, Desnos, Duchamp, Ribemont-Dessaignes und Picabia) sowie eine deutlich politische Ausrichtung des Surrealismus. Es geht nun nicht mehr nur um eine geistige Revolution (wie noch im ersten Manifest), sondern um die soziale Frage, der sich die Surrealisten stellen müssen. Doch auch selbstkritische Tendenzen werden laut, es regt sich das Bedürfnis nach einer Infragestellung der Ziele und Motive des Surrealismus. Breton macht deutlich, dass der Surrealismus sich noch in der Vorbereitungsphase befinde und dass die Entfaltung seiner Wirkung auf die Zukunft ausgerichtet sei. Seinen Kunstcharakter hat der Surrealismus komplett verloren, er sei, so Breton, weder Kunst noch Anti-Kunst, sondern er „plonge ses racines dans la vie“12. Ein wichtiges Projekt der Surrealisten bleibt weiterhin die Erkundung der verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz und die Erforschung jenes „point de l’esprit d’où la vie et la mort, le réel et l’imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l’incommunicable, le haut et le bas cessent d’être perçus contradictoirement.“13 Die Zusammensetzung der surrealistischen Gruppe änderte sich stets: manche Mitglieder gingen (wie Aragon, der mit der Gruppe brach, um sich der kommunistischen Sache zu widmen), andere kamen (wie Salvador Dalí, der den Surrealismus um weitere Techniken zur Erkundung des menschlichen Geistes bereicherte).
Dass die revolutionäre Kraft ihren Zenit überschritten hat, wird deutlich, als die Zeitschrift Le Surréalisme au service de la Révolution im Jahr 1933 eingestellt wird. Spätestens anlässlich des „Congrès des écrivains pour la défense de la culture“ (1935 in Paris), an dem die Teilnahme der Surrealisten von den Kommunisten stark sabotiert wird – die Eindrücke des Kongresses wurden in Du temps que les surréalistes avaient raison (1935) verarbeitet –, spätestens da glauben die Surrealisten nicht mehr an eine Versöhnung surrealistischer und kommunistischer Intentionen.
Die Konsekrierung des Surrealismus als künstlerische Bewegung nimmt somit ihren Lauf. Zahlreiche Surrealisten emigrieren in die USA, darunter auch Breton, der im Jahr 1940 nach New York geht. Nach dem Krieg hatten sich die Zeiten geändert, die Jugend hatte in Camus und Sartre, die sich im Krieg engagiert hatten, neue Helden gefunden. Überhaupt hatte der grausame Krieg die Wirkkraft des Surrealismus mit seinen unerfüllt gebliebenen Ambitionen in Frage gestellt. So ist der historische Surrealismus, der zwar erst im Jahr 1969 offiziell als beendet gilt, (spätestens) nach dem Krieg obsolet geworden. Er hatte sein Versprechen nicht halten können, „la transformation totale de la vie“14 war ausgeblieben, und trotz seiner anti-künstlerischen Haltung hatte er nur noch mehr Kunst produziert. Man muss wohl Jean Schuster zustimmen, wenn er in seinem Artikel Le quatrième chant in Le Monde vom 4. Oktober 1969 zwischen einem „surréalisme 'historique'“ und einem „surréalisme 'éternel'“ unterscheidet. Mit der Ikonizität seiner verbalen und graphischen Bilderwelt hat der Surrealismus als eines der „meilleurs produits d’exportation“15 Frankreichs die Sehgewohnheiten der Menschen grundlegend verändert und ist mit seiner traumhaften Bildsprache längst in das kollektive Bewusstsein der Massen getreten.
Der Surrealismus sah sich demnach schon zu seinen Hochzeiten mit seinen eigenen Aporien konfrontiert. Musste man bei der Transformation des Lebens zuerst beim Individuum ansetzen oder bei der Gesellschaft? Konnte man das Leben von der Kunst her verändern oder war dies nur durch politisches Engagement möglich? Dieser im Surrealismus und in der Avantgarde im Großen angelegte Widerspruch manifestiert sich im Kleinen am Theater, das ja ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Kunst und Leben steht.
3.2 Stellung des Theaters im Surrealismus
Breton stand der Institution Theater aus mehreren Gründen skeptisch gegenüber: Theater war ein Zeichensystem und als solches nicht wahrhaftig, es war finanziellen Zwängen unterworfen, außerdem war es für Breton ein Ausdrucksmittel unter vielen und stand im Dienste eines erweiterten Poesiebegriffs, weshalb eine Beschäftigung mit Theater als Kunstform drohte, ins Ästhetizistische abzugleiten. In der Introduction au discours sur le peu de réalité (1924) erklärt Breton:
Ô théâtre éternel, tu exiges que non seulement pour jouer le rôle d’un autre, mais encore pour dicter ce rôle, nous nous masquions à sa ressemblance, que la glace devant laquelle nous posons nous renvoie de nous une image étrangère. L’imagination a tous les pouvoirs, sauf celui de nous identifier en dépit de notre apparence à un personnage autre que nous-même. La spéculation littéraire est illicite dès qu’elle dresse en face d’un auteur des personnages auxquels il donne raison ou tort, après les avoir créés de toutes pièces. 'Parlez pour vous, lui dirai-je, parlez de vous, vous m’en apprendrez bien davantage. Je ne vous reconnais pas le droit de vie ou de mort sur de pseudo-êtres humains, sortis armés et désarmés de votre caprice. Bornez-vous à me laisser vos mémoires; livrez-moi les vrais noms, prouvez-moi que vous n’avez en rien disposé de vos héros.' Je n’aime pas qu’on tergiverse ni qu’on se cache.1
Er kritisiert am Theater, dass die Akteure hier in eine andere Rolle schlüpften und nicht sich selbst spielten. Und auch der Autor komme am Theater nicht direkt zu Wort, sondern immer nur gefiltert durch seine Figuren. Breton sieht das von ihm geforderte unmittelbare Wirken des subjektiven Geistes am Theater kompromittiert: auf der Bühne, wo die physische Materialität eine große Rolle spielt und die psychische Kontrolle zu einem gewissen Grad an Regisseure und Schauspieler abgegeben werden muss, war der surrealistische „Cult of Self“2, der eine ungehemmte und unmittelbare Vermittlung subjektiver psychischer Erfahrungen erforderte, beeinträchtigt. Hier zeigt sich Bretons Ablehnung des Theaters als Zeichensystem, das einer Zeit-Ort-Figuren-Matrix gehorcht und in dem die Dinge immer auf etwas anderes verweisen als auf sich selbst. Ein solches Theater war für ihn nicht wahrhaftig, sondern reine Imitation und Blendung.
Читать дальше