Mit dem europäischen Jahr der Sprachen 2001 setzt sich nach und nach der Begriff der Mehrsprachigkeit durch. Eine im selben Jahr veröffentlichte, wichtige Initiative des Europäischen Rates und richtungsweisende Publikation ist der „Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“ (GER) (Trim et al. 2001), der für Sprachlehrende und -lernende als umfangreiche Empfehlung zu verstehen ist. Der GER behandelt das Thema des Spracherwerbs, der Sprachanwendung und der Sprachkompetenz von Lernenden. Er stellt überdies den Plurilingualismus ins Zentrum der Reflexion – sowohl als erzieherisches als auch als politisches Projekt – im Dienste und zur Weiterentwicklung der demokratischen verfassten Staaten und ihrer Bevölkerung in Europa (vgl. Europarat 2001: 16).
Im November 2005 legte die europäische Kommission dann eine erste Mitteilung zum Thema Mehrsprachigkeit in Europa unter dem Titel „Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005) vor.
Die beiden großen europäischen Institutionen – der Europarat und die Europäische Union – haben sich in der Sprachenpolitik die Mehrsprachigkeit zum Ziel gesetzt und verschiedene Projekte zu deren pädagogischer Förderung initiiert. Die allgemeinen Zielsetzungen des Europarates bestehen in ihren Grundsätzen seit dem Europäischen Kulturabkommen; Die Europäische Union orientiert sich daran ebenfalls maßgeblich. Der Europarat hat es sich zur Aufgabe gemacht, Völkerverständigung, Demokratie und soziale Zusammengehörigkeit in Europa sowie die sprachliche Vielfalt und das Sprachenlernen im Bereich der Bildung zu fördern.
Das Ziel der Mehrsprachigkeit und einer mehrsprachigen Erziehung – so der Council of Europe 2007 in der englischen Fassung seiner sprachenpolitischen Erklärung – meint nicht das gleichzeitige Unterrichten einer Reihe von Sprachen, das Unterrichten durch den Vergleich verschiedener Sprachen oder noch das Unterrichten so vieler Sprachen wie möglich. Vielmehr geht es hier darum, eine mehrsprachige Kompetenz und eine interkulturelle Bildung zu entwickeln, im Sinne des friedlichen Zusammenlebens und einer sozialen Kohäsion:
“The aim of plurilingualism and plurilingual education is not simultaneously teaching a range of languages, teaching through comparing different languages or teaching as many languages as possible. Rather, the goal is to develop plurilingual competence and intercultural education, as a way of living together.” (Council of Europe 2007: 18)
Denn in einer Epoche der immer größer werdenden Mobilität, der Globalisierung und des Zusammenwachsens Europas haben sich die Anforderungen an die heutige Lernwelt grundlegend verändert (vgl. z.B. Meißner & Reinfried 1998). In einem multilingualen Europa und einer globalisierten Welt erfährt die Kenntnis fremder Sprachen eine zunehmend stärkere Aufmerksamkeit. Die Beherrschung oder zumindest das Verständnis der Sprachen der (europäischen) Nachbarn soll zur Ausbildung einer europäischen Identität und zur Friedenssicherung beitragen (vgl. Ahrens 2004: 14). Dabei werden die rund 220 geschätzten Sprachen in der europäischen Gemeinschaft nicht als Hindernis, sondern als Reichtum, als kulturelles Erbe angesehen, welches es zu schützen gilt (vgl. dazu Wiater 2006: 57 und Europäische Union 2007: 11).
In jedem Fall wird aber die individuelle Mehrsprachigkeit der europäischen Mitglieder von der europäischen Kommission als zu erreichendes Erziehungsziel erklärt, dessen Konkretisierung im Jahr 1995 im Weißbuch festgehalten wurde (vgl. Europäische Kommission 1995: 62). Der Europarat legt jedem europäischen Bürger nahe, das ganze Leben lang Sprachen aktiv zu lernen und zu sprechen und somit beständig die „europäische Idee“ der kulturellen Vielfalt zu leben. Zu diesem Zweck sei es notwendig, dass den Sprechern Mittel und Werkzeuge zur Einschätzung des eigenen Sprachvermögens und der kommunikativen Kompetenzen an die Hand zu geben; wichtige Errungenschaften des Europarats sind das europäische Sprachenportfolio oder noch der „Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“.
Resümierend ist festzuhalten, dass die Sprachenpolitik des Europarats folgende Zielsetzungen für jeden einzelnen europäischen Bürger vorantreiben will:
LE PLURILINGUISME: tous les citoyens européens ont le droit d’acquérir un niveau de compétence communicative dans plusieurs langues, et ce, tout au long de leur vie, en fonction de leurs besoins
LA DIVERSITE LINGUISTIQUE: L’Europe est un continent multilingue et toutes ses langues ont la même valeur en tant que moyens de communication et d’expression d’une identité. Les Conventions du Conseil de l’Europe garantissent le droit d’utiliser et d’apprendre des langues
LA COMPREHENSION MUTUELLE: La communication interculturelle et l’acceptation des différences culturelles reposent fortement sur la possibilité d’apprendre d’autres langues
LA CITOYENNETE DEMOCRATIQUE: la participation aux processus démocratique et social dans des sociétés multilingues est facilitée par la compétence plurilingue de chaque citoyen
LA COHESION SOCIALE: l’égalité des chances en matière de développement personnel, d’éducation, d’emploi, de mobilité, d’accès à l’information et d’enrichissement culturel dépend de la possibilité d’apprendre des langues tout au long de la vie. (Conseil de l’Europe 2014: ohne Seitenangaben; Hervorhebungen im Text)
Die Sprachenpolitik in Europa fußt noch immer auf der ursprünglichen Grundüberzeugung des Europarats, der es sich seit seinem Bestehen zur Aufgabe gesetzt hat, den Erwerb eines hohen kommunikativen Kompetenzniveaus aller europäischen Bürgerinnen und Bürger voranzutreiben. Diese Initiative basiert zudem auf der verstärkten Mobilität und Zusammenarbeit auf europäischer und internationaler Ebene. Die Grundidee hat dabei bis heute ihre Aktualität in Zeiten der Globalisierung nicht verloren. Um am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, sei das Beherrschen mehrerer Sprachen besonders im vielsprachigen Europa fast unvermeidbar geworden. Die Vielfalt der Sprachen wird als etwas Positives und Schützenswertes betrachtet. Für den Europarat ist Mehrsprachigkeit Garant für eine starke Demokratie und gesellschaftliche Einheit. Zudem ist Mehrsprachigkeit auch Voraussetzung für den interkulturellen Austausch im 21. Jahrhundert, der nicht zuletzt helfen soll, alte Grenzen, dank einer Sprachenvielfalt, zu überwinden (vgl. dazu Conseil de l’Europe 2014). Deshalb wird angestrebt, die europäischen Bürgerinnen und Bürger lebenslang, je nach Kommunikations- und Interaktionsbedarf, zum Zwecke einer größeren Mobilität und eines besseren gegenseitigen Verstehens und Zusammenarbeitens die notwendigen Voraussetzungen zur Kommunikation in jeder anderen Gemeinschaftssprache im Sinne einer funktionalen Mehrsprachigkeit entwickeln können, die sich in dem Aufbau folgender Kompetenzen niederschlägt:
1 Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sollen zum Ersten kommunikative, darunter linguistische Kompetenzen2 für den persönlichen, publiken, schulischen und ebenfalls den professionellen Bereich erwerben; zum Zweck der Kommunikation sollen sie darüber hinaus pragmatische Kompetenzen erlangen, die eine angemessene Kenntnis und Bewältigung der sozialen Dimensionen des (verständlichen) Sprachgebrauchs umfasst;
2 Zum anderen sollen sie allgemeine Kompetenzen wie allgemeines Weltwissen und soziokulturelles Wissen, Fertigkeiten zur Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen, Lernfähigkeiten und Persönlichkeitskompetenz besitzen. (vgl. dazu Wiater 2006: 57)
Sowohl im sozialen als auch im bildungspolitischen Diskurs wird deutlich hervorgehoben, dass eine migrationsbedingte Mehrsprachigkeit eine wertvolle Ressource für das schulische Lernen, für Sprachbewusstheit, für die persönliche Entwicklung und interkulturelles Lernen darstelle und in diesem Sinn zu begreifen sei (vgl. z.B. Fürstenau 2011: 25).
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