Die nächsten zwei Kapitel (Kapitel 5 und 6) stellen die Feldarbeit umfassend dar und inkludieren Lehrerinterviews zu ihren Einstellungen und zu ihren Erfahrungen im Umgang mit Mehrsprachigkeit im täglichen Schulkontext.
Zunächst werden im fünften Kapitel Vorüberlegungen zur Vorstudie, zu ihrer Genese und den Interviewpartnerinnen und -partnern ausführlich vorgestellt und analysiert (Kapitel 5.1 bis 5.3). Daraufhin werden die erhobenen Antworten in Haupt- und Neben-Kategorien ausdifferenziert. Die so dargestellten Ergebnisse und erste Befunde können bereits Einblicke in Einstellungen und Attitüden von Fremdsprachenlehrkräften gewähren, die relevant für die Durchführung der Hauptstudie und die verwendeten Fragenstrategien sein werden (Kapitel 5.4 und 5.5).
Das sechste Kapitel entwickelt die Äußerungen der Interviewpartnerinnen und -partner der empirischen Hauptstudie mit der Darstellung und Auswertung von insgesamt zwölf Lehrerporträts. Um die Auswertung möglichst transparent und nachvollziehbar zu gestalten, werden die Aussagen und Explikationen einer der von mir interviewten Fremdsprachenlehrkräfte exemplarisch beleuchtet und ausgelotet (Kapitel 6.1). Gleich im Anschluss daran erfolgen die Einzelfalldarstellungen und -auswertungen der Interviews weiterer elf Lehrkräfte (Kapitel 6.2 bis 6.12).
Anschließend wird im siebten Kapitel der Schwerpunkt auf der Gesamtauswertung der Ergebnisse der Lehrerinterviews liegen. Zusätzlich zu den individuellen Äußerungen und Einstellungen der Fremdsprachenlehrkräfte zu ihrem pädagogischen Handeln werden ebenfalls bildungspolitische, fachdidaktische und theoretische Diskurse in den Blick (zurück) genommen. Hierzu wird das Kategorienraster verfeinert und die Gesprächsinhalte entlang von Unterkategorien systematisiert. Abschließend wird versucht, das interindividuell Gemeinsame der Einstellungen der Lehrkräfte aus der Untersuchung in Form von abschließenden Thesen und Ergebnissen zusammen zu bringen (Kapitel 7.7) und zuzuspitzen.
Die Studie schließt im achten Kapitel mit einem Ausblick auf Forschungsdesiderata und weiterführende Fragestellungen für die universitäre Lehrerausbildung sowie notwendige, potenzielle Ansatzpunkte für zukünftige Studien (Kapitel 8).
Ein Europa von Polyglotten ist kein Europa von Menschen, die viele Sprachen perfekt beherrschen, sondern im besten Fall eines von Menschen, die sich verständigen können, indem jeder die eigene Sprache spricht und die des anderen versteht, ohne sie fließend sprechen zu können, wobei er, während er sie versteht, wenn auch nur mit Mühe, zugleich ihren « Geist » versteht, das kulturelle Universum, das ein jeder ausdrückt, wenn er die Sprache seiner Vorfahren und seiner Tradition spricht. (Umberto Eco 1994: Die Gabe an Adam, S. 355)
2. Historischer Exkurs und theoretische Grundlagen zum Konzept der Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit wird in Europa im Zuge der europäischen Sprachenpolitik seit Jahrzehnten gefordert und gefördert.
Zu Beginn dieses Kapitels gilt es zunächst, auf den Themenkomplex Mehrsprachigkeit im europäischen Kontext einzugehen, auf Basis dessen sich auch die bildungspolitischen und fremdsprachendidaktischen Forderungen nach einer Mehrsprachigkeit im schulischen Bereich ableiten lassen. Da es das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, festzustellen, ob und inwiefern die Einstellungen einer Gruppe von ausgewählten Fremdsprachenlehrenden den genannten sprachenpolitischen Zielen entsprechen und somit der gymnasiale Fremdsprachenunterricht in Deutschland der Forderung Europas nach Mehrsprachigkeit gerecht werden, und die Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen integrieren kann, ist ein historisch-sprachenpolitischer Überblick notwendig.
Daran anknüpfend werden aus der Fachliteratur einleitend die Terminologie der Zwei- und Mehrsprachigkeit und in der Folge Ausführungen zu der gesellschaftlichen und individuellen Mehrsprachigkeit einer näheren Untersuchung unterzogen, die für die vorliegende Studie relevante (Teil-)Aspekte darstellen. Anschließend werde ich für die vorliegende Untersuchung gemäß verschiedener Diskurse aus der Forschung eigene Aspekte meines Verständnisses von Mehrsprachigkeit entwickeln.
Vor dem Hintergrund dieser Definitionen wird darauf das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik, ihre Ansätze und Projekte samt zentralen Zielsetzungen geschildert. Ein besonderer Blick wird an- und abschließend sowohl auf die unterrichteten Fremdsprachen des Gymnasiums als auch auf die lebensweltlich erworbenen Sprachen gerichtet, wobei der Fokus auf das Potenzial eben dieser vorgängig gelernten Sprachen und ihre Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht gerichtet wird.
2.1 Europäische Sprachen- und Bildungspolitik und Mehrsprachigkeit
Im Folgenden wird zunächst ein theoretischer Umriss des Begriffs Sprachenpolitik im Allgemeinen und der europäischen Sprachenpolitik im Besonderen entwickelt werden, um dann im weiteren Verlauf die knapp sechzigjährige Geschichte der gemeinsamen europäischen Sprachenpolitik, die zentralen Ziele und konkreten Auswirkungen für den Fremdsprachenunterricht darlegen zu können.
Was versteht man unter Sprachenpolitik? In einem ersten Schritt grenzen einige allgemein gefasste Definitionen den Begriff etwas ein. Bußmann (1990) sieht als Sprachenpolitik
„[…] [p]olitische Maßnahmen, die auf die Einführung, Durchsetzung und Bestimmung der Reichweite von Sprachen zielen. [Dazu zählt auch die] [p]olitische Sprachregelung. [Sie ist ein] Eingriff in den Sprachgebrauch, meist durch staatliche Stellen und mit dem Ziel, bestimmte Bewusstseinsinhalte zu wecken oder zu unterdrücken.“ (Bußmann 1990: 713)
In diesem Sinne ist Sprachenpolitik die Ausübung staatlicher Einflussnahme auf den Sprachengebrauch und die Sprachenverwendung in einem Land oder einer Region. Sprachenpolitik kann zudem als politisch motivierter Eingriff in die sprachliche Situation einer Gesellschaft verwendet werden:
„Sprachenpolitik sieht sich der Problematik gegenüber, mindestens zwei oder mehrere Sprachen in einem Staat in ein Gleichgewicht zu bringen.“ (Haarmann 1988: 1661)
Die Möglichkeit des Missbrauchs der Sprachenpolitik für andere politische Ziele liegt auf der Hand: insbesondere sprachlichen Minderheiten gegenüber (vgl. dazu die „Charta der Regional- und Minderheitensprachen als Gegenentwurf des Europarates“, Europarat 1992). In einer Stellungnahme von 2005 hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) auf die vielfach missachteten Minderheitensprachen in Europa hingewiesen:
„In Frankreich haben die Verfassungsgerichte die Ratifizierung der Charta der Regional- und Minderheitensprachen und damit auch die Anerkennung der Vielsprachigkeit des Landes abgelehnt. Eine Umfrage unter 380000 französischen Staatsbürgern ergab, dass statistisch betrachtet 26 Prozent oder 11,5 Millionen Staatsbürger Frankreichs eine andere Sprache als die französische sprechen. Etwa zur Hälfte ist dies eine Minderheitensprache und zur Hälfte die eines anderen Landes. Im Dezember 2002 hat der Staatsrat entschieden, dass Französisch die einzige Unterrichtssprache ist. Diese Entscheidung hat Viele enttäuscht, insbesondere in der Bretagne, wo zahlreiche Modellschulen zweisprachig in bretonisch und französisch unterrichten. Auch andere Gegenden sind betroffen, so erhalten 8679 Schüler eine zweisprachige Erziehung mit Elsässisch, 3509 in Okzitanisch und 766 in Kalatanisch. Diese Entscheidung bedroht diese Sprachen in ihrer Existenz, insbesondere wenn man das Profil der Angehörigen von Minderheitensprachgruppen bedenkt. Mehr als die Hälfte aller, die Bretonisch sprechen, sind älter als 65 und 75 Prozent älter als 50.“ (Gesellschaft für bedrohte Völker 2005: ohne Seitenangabe)
Das Zusammenspiel von Sprachen in einem Land und seiner Gesellschaft (Sprachengemeinschaften) spielt eine wesentliche Rolle bei der Identitätsbildung. Die Sprachenpolitik ist, laut Louis-Jean Calvet (1996) im folgenden Zitat (Übersetzung durch die Verfasserin), die Sprachplanung, die sich in der Bestimmung der bedeutenden Entscheidungen bezüglich der Beziehungen zwischen Sprachen und Gesellschaft und ihrer konkreten Umsetzung manifestiert:
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