Zur Bedeutung der subjektiven Theorien von Lehrkräften wird vor allem im Zusammenhang mit ihrem beruflichen Alltagshandeln argumentiert: einem Handeln, das mit der Beeinflussung anderer Menschen, hier: der Schülerinnen und Schüler, in zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat (Mandl & Huber 1983). Effektives Lehrerhandeln, das auf eine optimale Förderung der Schülerschaft abzielt, ist somit von hoher Bedeutung und Effizienz und wird allgemein mit Lernzuwachs und -erfolg verknüpft. Auf der Basis ihrer subjektiven Theorien formulieren Lehrkräfte während ihres Unterrichts – in der Regel unbewusst – Hypothesen und Annahmen über die Lernprozesse der Lernenden. Sie beziehen sich auf Wissensbereiche, die ihnen als Person Orientierung geben, indem sie das eigene Verhalten sowie dasjenige anderer Personen erklären. Damit ein kompetenter Umgang mit alltäglichen Schulsituationen erfolgen kann und für das beobachtete Verhalten Erklärungsmuster bereit gehalten werden können, sind entsprechende Kognitionen und Wissenselemente, die durch die subjektiven Theorien bereit gestellt werden von Bedeutung (vgl. Mandl & Huber 1983; Dann 1994; Scheele & Groeben 1998). Allerdings bleibt hierbei die Frage nach der Beziehung zwischen Einstellungen und dem unterrichtlichen Handeln ungeklärt. Auch die Position von Hanns-Dietrich Dann (1992, 1994), der neben folgenden Definitionsmerkmalen unter Punkt 4 den Handlungsbezug formuliert, muss kritisch gesehen werden:
1 Subjektive Theorien stellen relativ stabile Kognitionen (mentale Repräsentationen) dar, die allerdings durch Erfahrung veränderbar sind.
2 Subjektive Theorien sind teilweise implizit, teilweise aber dem Bewusstsein der handelnden Person zugänglich, wenn etwa unterstützende Explizierungshilfen angeboten werden, die die Person darin unterstützen, ihre Kognitionen zu artikulieren.
3 Subjektive Theorien besitzen – ähnlich wie wissenschaftliche Theorien – eine zumindest implizite Argumentationsstruktur, d.h. sie können zur Erklärung und Prognose herangezogen werden, da sie Wenn-Dann-Beziehungen enthalten und Schlussfolgerungen ermöglichen. Sie erfüllen die Funktionender Situationsdefinition,der Erklärung eingetretener Ereignisse,der Vorhersage zukünftiger Ereignisse sowieder Generierung von Handlungsentwürfen oder -empfehlungen.
4 Für die individuelle Person haben Subjektive Theorien eine handlungsleitende oder handlungssteuernde Funktion und beeinflussen zusammen mit anderen Faktoren (wie etwa Emotionen) das Verhalten der Person. (vgl. Dann 1994: 166)
Eine direkte Verbindung zwischen Einstellungen und Handeln kann aus den Interviews ohne begleitende Unterrichtsbeobachtung nicht gezogen werden; die vorliegende Studie bildet auch verbale Daten zu einer möglichen Beziehung zwischen beiden an, dabei handelt es sich aber um die persönlichen Äußerungen der Interviewpartnerinnen und -partner. Inwieweit es sich dabei um Darstellungen handelt, die der tatsächlichen Praxis entsprechen oder um Abstufungen einer didaktisch-methodischen Erwünschtheitserwartung bei den Interviewpartnern, soll im Auswertungskapitel diskutiert werden. Hinweise auf diesbezügliche Fehleinschätzungen der Lehrkräfte lieferte bereits die „Videostudie des Englischunterrichts“ (DESI-Konsortium 2008).
Zu ernüchternden Aussagen kommt John Hattie in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer (2014), auf dessen bahnbrechende Ergebnisse noch einzugehen sein wird, in dieser Frage, indem er die anekdotenhaften Schilderungen der Lehrpersonen kritisch hinterfragt:
„In einer Analyse der Berichte von Lehrpersonen über ihre Erfahrungen in der Klasse stellt Little (2007) fest, dass das Unterrichten weitgehend außer Sichtweite anderer Lehrpersonen erfolgt. Es gebe daher eine Tendenz, sich auf Erzählungen zu verlassen, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Allzu oft sind Lehrpersonen abhängig von „Kriegsgeschichten“, persönlichen Erlebnissen und dem Vertrauen auf ihre eigene Erfahrung, um ihre persönlichen Präferenzen zu rechtfertigen.“ (Beywl & Zierer 2014: 297; Hervorhebungen im Text)
Une recherche en sciences humaines et sociales est toujours une aventure. L’enquête qualitative de terrain, en particulier, comporte de nombreuses inconnues, car ses opérations ne sont pas aussi prévisibles que, disons, une recherche expérimentale. (Paillé & Mucchielli 2009: 13)
4. Forschungsmethodischer Ansatz und Erhebungsdesign
4.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen – Rahmenbedingungen, Forschungsverfahren und Fragestellungen
Im Zentrum des Forschungsinteresses der vorliegenden empirischen Studie stehen die Diskurse und Erzählungen Fremdsprachenlehrender an Gymnasien, ihre subjektiven Theorien und Einstellungen zu der von ihnen gestalteten und erlebten Unterrichtspraxis im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit. Die Untersuchung geht unter anderem der Frage nach, wie ausgewählte, einzelne Fremdsprachenlehrkräfte in ihrem beruflichen Alltag mit der individuellen, lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen, und wie sie, darüber hinaus, deren durch Schulfremdsprachenunterricht erworbene Fremdsprachenkenntnisse für das Erlernen weiterer Sprachen aktivieren, um dem bildungspolitischen Ziel der Mehrsprachigkeitsförderung gerecht zu werden und das Potenzial der vorhandenen Mehrsprachigkeit für den Unterricht zu nutzen.
Die gewonnenen Erkenntnisse sollen kurzfristig dazu beitragen, Aussagen über den Unterricht ausgewählter Fremdsprachenlehrkräfte, deren Erfahrungen, Sichtweisen und Einstellungen bei der Implementierung respektive Nicht-Implementierung erlebter Mehrsprachigkeit im Klassenraum zu dokumentieren, sowie eine möglichst detaillierte und umfassende Darstellung und Analyse der möglichen Bandbreiten erlebter Praxis eben dieser Lehrkräfte im genannten Forschungsfeld zu liefern (vgl. Méron-Minuth 2015 und 2016).
Anhand von Einzelfallstudien soll aufgezeigt werden, welche Relevanz Lehrerinnen und Lehrer der Mehrsprachigkeit in ihrem Fremdsprachenunterricht zuschreiben. Dabei verfolgt die Studie nicht,
"[…] das Aufdecken allgemeiner Gesetzmäßigkeiten, sondern sie setzt sich eine möglichst detaillierte und zugleich umfassende, interpretative Beschreibung des beruflichen Selbstverständnisses von Fremdsprachenlehrer/inne/n zum Ziel […]." (Caspari 2001: 88f.)
Die Auswertung des zu erhebenden Datenmaterials – qualitative Leitfadeninterviews – setzt sich unter anderem zum Ziel, nicht nur die explizit-reflexiven Vorstellungen von Fremdsprachenlehrkräften, sondern auch die zugrunde liegenden, impliziten Orientierungen zu rekonstruieren. Lehrkräfte sind Handelnde im Rahmen eines schulischen Kontextes, der ihnen selbstbestimmtes Handeln und Entscheidungsprozesse auf der einen Seite ermöglicht, auf der anderen Seite aber auch eine Eigenrationalität besitzt und das Handeln der in ihm Praktizierenden bestimmt (vgl. Radtke 2004: 130ff.). Ziel muss es sein – soweit dies das Datenmaterial ermöglicht – auch die nicht explizit formulierten Annahmen und Vorstellungen zu rekonstruieren, das heißt, die impliziten und sozial determinierten Deutungs- und Argumentationsmuster zu erschließen (vgl. Wieser 2008: 16).
Bei der Datenauswertung gilt es das „Überindividuell-Gemeinsame herauszuarbeiten“ (vgl. Meuser & Nagel 2002: 80) und
„[…] gemeinsam geteilte, gewissermaßen typische Wissensbestände, Relevanzstrukturen und Deutungsmuster zu rekonstruieren. Der jeweilige Interviewtext bzw. der oder die Befragte interessieren uns daher nicht in seiner Besonderheit, vielmehr wird der befragte Experte als Repräsentant seiner „Zunft“ behandelt.“ (Bogner, Littig & Menz 2014: 78)
Insofern liefert die vorliegende Studie subjektzentrierte, exemplarische Einblicke in Überzeugungen und Handlungsmuster von Fremdsprachenlehrkräften als Experten in Bezug auf das Mehrsprachigkeitspostulat. Dabei wird es besonders interessant sein zu zeigen, welche Position die befragten Fremdsprachenlehrkräfte hier insgesamt zu diesem europäischen, sprachenpolitischen Postulat einnehmen. In der europäischen Sprachenpolitik wird Mehrsprachigkeit – politisch überhöht – als Mittel gesehen, gesellschaftliche Kohäsion zu fördern (vgl. Kapitel 2).
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