1 ...6 7 8 10 11 12 ...35 Diese Betrachtungsweise erlaubt die Übertragung räumlicher Vorstellungen auf Bereiche, die eigentlich nicht räumlich geprägt sind. So spricht man daher in der Mathematik und in den Naturwissenschaften z.B. vom „Zahlenraum“, „Farbenraum“ oder „Phasenraum“. Auch richten wir in unserem Alltag gerne „Freiräume“ ein und denken langfristig in größeren „Zeiträumen“. Zugleich aber bedienen wir uns verschiedener topologischer Gegensatzpaare wie „hoch – niedrig“, „rechts – links“, „nah – fern“, „offen – geschlossen“, „abgegrenzt – nicht abgegrenzt“, „diskret – ununterbrochen“ keineswegs nur zur Beschreibung räumlicher Beziehungen, vielmehr setzen wir sie auch ein, um z.B. im sozialen (‚eine offene/geschlossene Gesellschaft‘, ‚nahe/ferne Bekannte‘) oder politisch-ökonomischen (‚hohe/niedrige Gewinne‘) Bereich Beurteilungen und Wertungen vorzunehmen. Auch ist unser Denken durch vertikal strukturierte Hierarchisierungen, wie sie z.B. in der Unterscheidung zwischen „Himmel – Erde – Hölle/Unterwelt“ zum Ausdruck kommen, in einer räumlichen, zugleich jedoch wertmäßig differenzierenden Weise vorgeprägt.
Zum „[…] wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes […]“ wird für Lotman jedoch die Grenze , die „[…] den Raum in zwei disjunkte Teilräume [teilt]“, deren „innere Struktur […] verschieden [ist]“. Die Grenze zeichnet sich zuvörderst durch ihre „Unüberschreitbarkeit“ aus, sie „[…] muss unüberwindlich sein […]“. Die „disjunkten Teilräume“ sind nicht notwendigerweise als aneinander grenzende, sich feindlich begegnende Territorien zu denken, vielmehr nennt Lotman beispielhaft „[…] eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere […]“.9
In Lotmans Vorstellung vom künstlerischen Raum und damit auch in seiner Narratologie ist die Grenze auf das engste mit dem Begriff des „Sujet“ bzw. des „Ereignisses“ verbunden. Die Frage: „Was ist ein Ereignis als Einheit des Sujetaufbaus?“ beantwortet er folgendermaßen: „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.“10 Angesichts der Charakterisierung der Grenze als einer unüberwindbaren Trennungslinie überrascht es nicht, dass Lotman ein „Ereignis“ als „[…] revolutionäres Element, das sich der geltenden Qualifizierung widersetzt“,11 bezeichnet. Da ein in diesem Sinne verstandenes „Ereignis“ also etwas gänzlich Unerwartetes bzw. Unwahrscheinliches darstellt, nimmt seine „Sujethaftigkeit“ zu, je geringer die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens ist.12
Allerdings bedarf die Unterscheidung zwischen „Ereignis“ und „Nicht-Ereignis“ noch der Präzisierung, insofern ein Geschehen weder losgelöst von seinem „[…] sekundären semantischen Strukturfeld […]“ noch von den jeweiligen „[lokalen] Geordnetheiten […]“13 zu beurteilen ist. Der Kontext der Zitate lässt vermuten, dass Lotman damit den sozio-kulturellen Kontext eines Handlungsablaufs mitsamt seinen bis auf lokaler Ebene zu beobachtenden Differenzierungen meint. So weist er darauf hin, dass das „[…] Sujet […] organisch […] mit dem Weltbild [zusammenhängt], das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts Neues bringt“14. Die Relativität der Einschätzungen gelte für künstlerische und nicht-künstlerische Texte gleichermaßen, stellt Lotman mit einem Blick auf die „[…] Rubrik der ‚Tagesereignisse‘ in Zeitungen verschiedener Epochen […]“15 fest und betont damit zugleich, dass Einstellungen und Wertmaßstäbe auch dem Wechsel der Zeiten unterworfen sind. Man mag Lotmans Gedanken daher mit folgendem Beispiel veranschaulichen: Ein Papstbesuch löst nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern auch in jedem einzelnen Land angesichts der Unterschiede z.B. zwischen ländlichen Gebieten und (Groß-)Städten sowie – in unterschiedlichem Maße – konfessionell-kirchlich gebundenen und kirchenfernen Bevölkerungsschichten unterschiedlichste Reaktionen aus, die von begeisterter Zustimmung („Jahrhundertereignis“) bis zu entschiedener Ablehnung („unnötige Geldverschwendung“) reichen dürften, die darüber hinaus jedoch auch durch zeitbedingte Faktoren beeinflusst werden.
Wenn Lotman den Akt der – unerwarteten – Grenzüberschreitung als Ereignis bzw. Sujet eines Textes bezeichnet, dann sind die agierenden Figuren als bewegliche Helden zu bezeichnen. Er nennt beispielhaft Balzacs Rastignac, der sich – topologisch ausgedrückt – gesellschaftlich von „unten“ nach „oben“ emporarbeitet, und Shakespeares Romeo und Julia, die sich – ungeachtet der die Häuser Montague und Capulet wie eine hohe Mauer voneinander trennenden Erbfeindschaft – zu ihrer Liebe bekennen. Die Beispiele zeigen, dass Grenzüberschreitungen (a) topologisch markiert, (b) angesichts der aufeinander treffenden Einstellungen, Überzeugungen, Weltbilder zugleich semantisch aufgeladen und (c) selbstverständlich immer auch in einen topographisch mehr oder weniger genau bestimmten Rahmen eingefügt sind.16
Während sujethaften Texten geradezu revolutionäre Eigenschaften eignen, geht von sujetlose n Texten eine die bestehenden Verhältnisse bestätigende Wirkung aus, d.h. dass sie „[…] einen deutlich klassifikatorischen Charakter [haben]“ und die in ihnen agierenden Figuren unbeweglich sind.17
Lotmans Anliegen, die Bedeutung des Raums für die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen darzustellen und zu begründen, ist so plausibel wie seine Feststellung, dass „[…] die Sprache räumlicher Relationen […] eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit“18 ist. Weniger zu überzeugen vermögen jedoch der rigoros binäre Charakter seines Raummodells sowie die sich daraus ableitende Unterscheidung zwischen sujetlosen und sujethaften Texten bzw. zwischen unbeweglichen und beweglichen Figuren, da sich die Frage aufdrängt, ob die komplexe Wirklichkeit ausschließlich in dieser schematisierten Form literarisch abgebildet bzw. übersetzt werden kann.19 Unerlässlich ist daher ein Blick auf das in seinem Spätwerk entfaltete Modell der Semiosphäre , in dem die Grenze als topologisches Hauptmerkmal zwar weiterhin von zentraler Bedeutung ist, aber zugleich neu definiert wird.
Lotman hat sein Modell der Semiosphäre in Anlehnung an Vladimir Vernadskijs Konzept der Biosphäre als ein organisches, holistisches Gebilde entwickelt.20 Er betont, dass der Raum der Semiosphäre zwar von abstrakter Natur sei, der Begriff aber nicht metaphorisch gebraucht werde.21 Entsprechend ihrem organischen Charakter „[…] ist […] die Semiosphäre zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur“22. In seiner zuweilen sehr bildhaften Sprache bringt Lotman damit zum Ausdruck, dass die Semiosphäre jenen Nährboden bildet, aus dem kulturelles Leben hervorgeht. Holistisch ist Lotmans Ansatz, insofern für ihn „[…] jede einzelne Sprache […] von einem semiotischen Raum [umgeben ist]“ und „[der] kleinste Funktionsmechanismus der Semiose, ihre Maßeinheit, […] nicht die einzelne Sprache, sondern der gesamte semiotische Raum einer Kultur [ist]“23. Wenn Lotman hier offensichtlich von einer Vielzahl von in einer Semiosphäre nebeneinander existierenden Sprachen ausgeht, ist dies in hohem Grade missverständlich, solange man dabei nur an natürliche Sprachen denkt. Gemeint sind vielmehr
[…] auch Partialsprachen, Sprachen mit eingeschränkten kulturellen Funktionen und sprachähnliche, unausgeformte Gebilde, die zu Trägern der Semiose werden können, wenn sie in einem semiotischen Kontext stehen: Etwa wie ein Stein oder ein seltsam gebogener Baumstamm als Kunstwerk fungieren können, wenn man sie als solches betrachtet. Ein Objekt nimmt die Funktion an, die man ihm zuschreibt.24
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