Judith laissait ses cheveux flotter, et sous la bise de février elle se sentait au printemps, et quand elle se penchait pour regarder l’océan, ses yeux se teintaient d’un vert plus sombre, un peu de mystère voilait son regard – à la recherche de quelque chose. Elle relevait la tête et Mariane lui enviait la force qu’elle paraissait puiser dans les eaux tumultueuses.9
Die Umstände der Überfahrt lassen nicht nur Judiths größere Härte und Belastbarkeit hervortreten, es umgibt sie auch ein Schleier des Geheimnisvollen, Undurchdringlichen und Unberechenbaren. Der sich zwei Jahre nach der Ankunft in New York vollziehende Bruch zwischen den beiden Frauen wird damit proleptisch vorweggenommen.
2.3.2 New York vs. Heidelberg
Ein weiteres Mal taucht Heidelberg im zweiten Kapitel auf.1 Mariane erinnert sich, dass ihr Sohn John sie einige Male gebeten hat, ihm von Heidelberg zu erzählen. Allein der Name der Stadt habe ihr Herz höher schlagen lassen und in ihr den Wunsch geweckt, mit jemandem Deutsch zu sprechen. Da dies mit John nicht möglich war, vermochte sie seine Fragen nicht so zu beantworten, wie sie es eigentlich wollte: „[…] elle ne parvenait pas à lui répondre […].“2 Sie lieferte nüchterne Informationen, ohne in ihrer Muttersprache „ihr Herz sprechen lassen“ zu können. So wurde Heidelberg in ihrer Antwort zu „[…] une ville comme une autre […]“3 degradiert. Wenn John besonders drängte, erwähnte sie auch noch die Schlossruine, den Neckar und den Philosophenweg und sogar das etwas weiter stromaufwärts gelegene Tübingen mit Hölderlins berühmtem Turm. Und wenn John Worte wie Hölderlin und Tübingen wiederholte, als schlössen sie ein Geheimnis ein, dann hatte Mariane den deprimierenden Eindruck „[…] qu’elle aussi, comme le poète, se trouvait enfermée dans une tour, depuis bien des années“4. In diesen Momenten begreift sie, wie stark sie sprachlich und kulturell in ihrer Heimatstadt Heidelberg verwurzelt und wie radikal sie in New York von dieser sie prägenden Verbindung getrennt ist.
Das Beispiel Heidelbergs zeigt sehr deutlich, wie sich Marianes Blick auf die Welt durch ihr Leben in New York verändert hat. Dass sie ihre innere Mitte verloren hat, wird ihr – unter dem noch frischen Eindruck der von Judith angeregten und von ihr hingenommenen Vertauschung der ihnen zugedachten Ehemänner – bereits bewusst, als sie Harry Loom zum ersten Mal sieht. Am Tag ihrer Hochzeit ist sie davon überzeugt „[…] que ce oui ne lui était pas destiné, qu’elle vivait en dehors de sa vie – mais sa vie, où était-elle?“5. Den Namen „Mariane Loom“ empfindet sie als „[…] un masque supplémentaire posé sur sa vraie vie“6. Im Rückblick auf die sie frustrierende Helferinnentätigkeit in der Praxis ihres Mannes bilanziert sie, dass „[…] de vingt années à New York il ne lui restait rien, pas une rue, une maison, un magasin, pas un être à qui elle se serait attachée, pas une aventure, la grande ville était un grand désert, l’erreur était plus vaste“7. Die von ihr erlebte Wirklichkeit steht somit in schärfstem Kontrast zur Erwartung eines „[…] espace inconnu, qui laissait cours à l’inspiration“, die Judith in Heidelberg im Anblick eines „[…] horizon […] bas, cerné par la forêt […]“8 auch in ihr geweckt hatte. Die Begriffe „espace inconnu“ und „un grand désert“ veranschaulichen, dass Marianes Hoffnungen auf eine ihren Geist anregende, ihr Leben bereichernde Zukunft in einer Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten und ihre Bewertung der erlebten Zeit in krassem Gegensatz zueinander stehen. Durch den Gebrauch einer räumlichen Begrifflichkeit unterstreicht die Erzählerin, dass Mariane, wie oben bereits angedeutet, ihre zwanzig Jahre in New York als eine Zeit der inneren Gefangenschaft betrachtet.
2.3.3 Eine Reise in die Ungewissheit
Inspiriert durch die endlos wirkende Weite des Meeres, erlebt Mariane den Beginn ihrer Rückreise als einen fast sakral anmutenden Akt der Reinwaschung ihres Lebens, als eine Auslöschung der bedrückenden Erinnerungen an ihr persönlich-berufliches Umfeld und als ein Einatmen von Freiheit.1 In einem Gespräch mit dem Engländer John Dee erklärt sie dieses Gefühl der Befreiung mit den Worten: „[…] j’ai l’impression de sortir de prison et de voir le soleil pour la première fois […].“2 Nachdem sie eine Rückkehr nach Amerika kategorisch ausgeschlossen hat und John Dee sie daraufhin auf ihren zurückgebliebenen Mann anspricht, erklärt sie unmissverständlich: „Il fait partie de ce que je ne veux plus retrouver […].“3 Gänzlich unbestimmt bleibt indes zunächst das Ziel ihrer Reise. Mit nur einem Koffer unterwegs – […] moins chargée qu’au départ – et plus libre – stellt sie lapidar fest: „[…] je ne vais vers rien.“4
Es entspricht Marianes Bedürfnis nach Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung des Lebens, dass die Rückreise nach Europa, anders als die Hinreise, „[…] dans le sens du temps […]“5 gerichtet ist. Gleichzeitig jedoch wird sie sich ihrer Unsicherheit bewusst, die von der Erzählinstanz in räumlich inspirierter Metaphorik zum Ausdruck gebracht wird. So spürt sie in der Nähe des Exilanten Thomas Mann „[…] l’immensité du gouffre qui séparait la vie qu’elle avait menée de la vie que menaient d’autres, l’impossible rencontre des sphères […]“6, und bei der Frage Peter Lemms, ob sie etwas in New York zurückgelassen habe, fühlt sie sich, eingeholt von der Erinnerung an den von ihr verlassenen Ehemann und den Sohn, wie von einem mächtigen Strudel in einen tiefen Abgrund gezogen.7
Mariane leidet jedoch nicht nur unter der aus „[…] vingt années de mensonge […]“8 resultierenden Veränderung ihrer Persönlichkeit, sondern auch unter den gravierenden Folgen des Krieges, die sie bis in den Schlaf verfolgen:
Dans les draps blancs où elle ne dormait pas, elle voyait le monde se diviser en deux, les gens plutôt, les innocents et les autres, ceux qui avaient cédé à la tentation et ceux qui n’avaient pas cédé […] Harry était un innocent, John Dee aussi, mais pas elle, pas Judith […] Et dans ce bar où elle avait vu Thomas Mann, elle se demandait à cet instant si la division n’était pas entre vainqueurs et vaincus, de la guerre, certes, mais d’une autre guerre aussi, plus intérieure.9
Die Teilung der Welt lässt sich, folgt man der Argumentation Marianes, durchaus unterschiedlich erklären, je nachdem, ob man Kriterien der persönlichen Schuld bzw. Unschuld anwendet oder aber sich an der durch das Ergebnis der Kriege geschaffenen Unterteilung in Sieger und Besiegte orientiert. Dass Mariane davon ausgeht, dass die Sieger gemeinhin als unschuldig, die Besiegten als schuldig gelten, erhellt aus ihrer an Dee gerichteten Bemerkung: „[…] la vie est simple pour vous, vous faites partie d’un pays vainqueur.“10 Als Dee ihr entgegnet: „Vous aussi […] l’Amérique“11, distanziert sich Mariane von dieser – sicherlich freundlich gemeinten – Zuordnung mit den Worten: „En vingt ans, il n’est pas une seconde où je me sois sentie chez moi. J’ai vu disparaître la statue de la Liberté avec un soulagement, vous ne pouvez pas imaginer.“12 Auf den ergänzenden Hinweis Dees, dass sie während der fraglichen Zeit nicht in Deutschland gewesen sei, gibt Mariane zu bedenken: „Je n’étais pas là-bas mais je suis de là-bas, de ce pays, de cette langue.“13 Und sie fügt hinzu, dass sie sich gedrängt fühle, ihr in Ruinen liegendes Land, das von amerikanischen Offizieren mit Pompei verglichen werde, zu besuchen. – Mit ihren Äußerungen beklagt sie nicht nur erneut die von ihr als eine Zeit der Gefangenschaft empfundenen Jahre in New York, sie distanziert sich darüber hinaus von dem ganzen Land, dem sie implizit vorwirft, seinen Einwanderern bei ihrer Ankunft mit dem in Bronze gegossenen Pathos der Freiheitsstatue ein utopisches Bild vom Leben in den USA zu vermitteln. Gleichzeitig identifiziert sie sich mit ihrem Herkunftsland Deutschland und seiner Sprache als einem wesentlichen Merkmal kultureller Identität und lässt damit deutlicher erkennen, was sie unter jener in dem Gespräch mit John Dee erwähnten „guerre intérieure“ versteht. Sie war zwar während der Schreckensjahre nicht in ihrer Heimat, betrachtet diese Zeit jedoch als eine „[…] vie de fausseté“14 und sucht daher nach einem neuen Weg.
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