[P]lötzlich wurden seine Augen starr, er hielt sie unverrückt auf das TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung gerichtet, dann glitt er langsam den Stuhl herunter, die Katze ebenfalls, sie war wie bezaubert von seinem Blick, sie geriet in ungeheure Angst, sie sträubte sich scheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlich entstelltem Gesicht, wie in Verzweiflung stürzten Beide auf einander los […]. (MA 155)
Die von „Instinkt“ und „Trieb“ gesteuerte Figur Lenz, die schon zuvor mit einem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung verglichen wurde („wie ein Hirsch“ [MA 154]), unterliegt einer „Dynamik der Animalisierung“.10
Die Grenze zwischen Mensch und TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, die in den Schulreden noch scharf definiert war, im Hessischen Landboten aber bereits mit sozialkritischem, aufwieglerischem Impetus rhetorisch in Frage gestellt wurde, wird hier weiter verwischt. Im Woyzeck kulminiert diese Strategie.
Neben Textstellen, die Lenz insofern würdelosWürdelosigkeit erscheinen lassen, als er kein handelndes Subjekt mehr ist, d.h. er sich nicht mehr mit Hilfe seiner VernunftVernunft und seines WillensWille, freier Wille über das Triebhaft-Unbewusste hinwegsetzen kann,11 und die ihn als Getriebenen, als ObjektObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit innerer Zwänge zeichnen, stehen solche, die Lenz gleichzeitig als sich intuitiv Wehrenden zeigen:
[E]r konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten, er stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben, er stürzte sich in den Brunnstein, aber das Wasser war nicht tief, er patschte darin. (MA 139)
Was er tat, tat er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerer Instinkt. (MA 155)
Eigentlich nicht er selbst tat es, sondern ein mächtiger Erhaltungstrieb, es war als sei er doppelt und der eine Teil suchte den andern zu retten, und rief sich selbst zu […]. (MA 156)
Bezeichnenderweise ist von VernunftVernunft oder Willen schon gar nicht mehr die Rede; was Lenz dazu bringt, sein „Bewußtsein“ – mithin seine ‚AutonomieAutonomie‘ – wiederzuerlangen, ist der „ Trieb der geistigen Erhaltung“ (MA 156; m. H.). So oder so ist Lenz von nicht-rationalenRationalität ‚Mächten‘, die er nicht unmittelbar beeinflussen kann, determiniertDetermination.12
Lenz ist also ein Getriebener. Diese ‚innere DeterminationDetermination‘ findet ihre Entsprechung in konkreten äußeren Zwängen: Der Vater, im Text vertreten durch Kaufmann und seine Briefe, drängt Lenz zu einem bürgerlichen Normen entsprechenden Lebenswandel. Über Lenz’ eigenen Willen wird nicht nur vom Vater, sondern auch von Kaufmann und Oberlin ein ihm fremder gesetzt. Lenz reagiert „heftig“: „Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort? […] Ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! […] da will ich bleiben; […] was will mein Vater? Kann er mir geben? Unmöglich!“ (MA 146). Lenzʼ WilleWille, freier Wille ist ganz offensichtlich nicht das Entscheidende. Auf der innerfiktionalen Ebene, genauer: im innerfiktional durch andere Figuren repräsentierten Bewertungshorizont, wird Lenz’ Menschenwürde somit schwer in Zweifel gezogen.
IV.3.2. Die Konstitution von Menschenwürde durch erzählerische Verfahren
Lenz’ Autonomieverlust lässt sich auch beschreiben als Verlust seiner kommunikativen, kreativen, kognitiven und expressiven Fähigkeiten. Nicht nur kann er seine Erlebnisse, Ängste und Wahrnehmungen zu keiner Zeit literarisch verarbeiten, vielmehr scheinen ihm bereits die dafür notwendigen sprachlichen Fähigkeiten zu entgleiten. Seine „Angst“ ist eine „namenlose“ (MA 138), „unnennbare“ (MA 139), „unbeschreibliche“ (MA 155), die sich auch nicht denkend erfassen und artikulieren lässt. Immer seltener spricht er „ganz vernünftigVernunft und […] ruhig“ (MA 157); er redet „meist nur in abgebrochenen Sätzen“ (MA 150), „mit ängstlicher Hast“ (MA 152), oder er „stockte […] oft“ (MA 155). Zwar sieht er sprachliche Zeichen („Hieroglyphen, Hieroglyphen“ [MA 154]), doch diese können nur von Eingeweihten gedeutet und verstanden werden – Lenz findet dafür keine adäquaten Ausdrücke. Und doch sind seine Eindrücke, Emotionen und Ängste für den Leser nachvollziehbar: durch den Erzähler, der den Rezipienten durch sein personales Erzählverhalten Lenz’ Empfindungen und Wahrnehmungen mitfühlen und -sehen lässt sowie auktorial Metaphern und Vergleiche hierfür findet. Als ‚zwischengeschaltete‘ Instanz sorgt er dafür, dass Lenz als das wahrgenommen wird, was er ist: ein empfindender Mensch.
Diese Verschränkung von personalen Beschreibungen von Lenz’ Befindlichkeiten und auktorialen Einschüben, die mit Bildern zur Sprache bringen, was Lenz selbstständig nicht formulieren kann, zeigt sich bereits zu Beginn des Textes: „Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen […]“ (MA 137). Im ersten Teil des Satzes wird durch personales Erzählverhalten („so“) die Subjektivität der Wahrnehmung, aber auch das Intim-Kreatürliche betont. Der zweite, auktoriale, bildhafte Teil expliziert das von Lenz empfundene Gefühl der Zärtlichkeit angesichts der erfahrenen Natur, das sich mit Hilflosigkeit, auch mit Ängstlichkeit mischt. Diese Angst, die für Lenz nur „namenlos[]“ (MA 138) und „sonderbar[]“ (MA 140) ist, wird vom Erzähler in Bilder gefasst. Wenn „der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm [herjagt]“ (MA 138) oder „der Alp des Wahnsinns […] sich zu seinen Füßen [setzt]“ (MA 140), dann sind das einerseits starke Bilder für die sich innerfiktional entfaltende Psychose und Lenz’ totalen Autonomieverlust; andererseits, vom außerfiktionalen Standpunkt her betrachtet, bezeichnen diese Einschübe Lenz’ existenzielle Angst, den Schrecken und die Ohnmacht, die er empfindet. Dass Lenz so empfindet, genau das macht ihn zum Menschen. Lenz’ scheinbare Würde losigkeit Würdelosigkeit wird erzählerisch überwunden, durch das Gestalten einer Erzählsituation, die aufgrund ihrer personalen Züge MitleidMitleid, Verständnis und „kreatürlicheKreatürlichkeit[] SolidaritätSolidarität“1 einfordert und durch auktoriale Einschübe der Differenziertheit der Empfindungen einen sichtbaren, bilderwuchtigen Ausdruck verleiht. Erst diese eindrucksvolle Differenziertheit verdeutlicht, dass es hier um die Empfindungen eines Menschen geht und nicht um die reflex- oder instinktartigen Empfindungen eines TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung. BüchnersBüchner, Georg Text ist somit der fiktionale Versuch, einem vermeintlich würdelosen Menschen seine Würde zurückzugeben.2 Die Figur Lenz wird als Mensch geschildert, durch eine Erzählhaltung, die Menschlichkeit einfordert; da Lenz eine ‚menschliche‘ Bewertung verdient, besitzt er Würde. Menschenwürde wird hier literarisch konstituiert.
IV.3.3. Die Menschenwürde und das Kunstgespräch
An einer zentralen Stelle des Textes gelingt es Lenz dann doch, sich relativ zusammenhängend zu äußern: im Kunstgespräch mit Kaufmann.1 Hier erhält der Begriff der Menschenwürde eine inhaltliche Konkretisierung. Die Aussagen zu KunstKunst, Künstler und Ästhetik sind weder dem historischen Lenz noch BüchnerBüchner, Georg selbst uneingeschränkt zuzuschreiben; gleichwohl sind die hier formulierten Gedanken und der postulierte „humanitäre[] Gehalt“2 der Kunst gerade für die Frage nach der Menschenwürde zentral. Zwei Aspekte dominieren: die Idealismuskritik und das „moralische[] Gebot zur Menschenliebe, zum MitleidMitleid“.3 „Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“, urteilt die literarische Künstlerfigur Lenz (MA 144). Lenz denunziert die klassisch-idealistische Kunstauffassung SchillersSchiller, Friedrich4 und die mit ihr verknüpfte Sicht auf den Menschen – und seine Würde. Das Kunstgespräch kennzeichnet das dualistische idealistische Menschenbild und die idealistische Würdeauffassung als fragwürdig, da sie die zu überwindende ‚tierische Natur‘ des Menschen von vorneherein delegitimieren. Im Gegensatz dazu erfährt nun das vermeintlich ‚Niedrige‘, Abweichende, Nicht-Normale eine – moralische wie ästhetische – Apologie.5 Büchners, oder besser, der dem Text zugrundeliegende Menschenwürdebegriff ist wesentlich anders, er umfasst eben auch das, was der idealistische ausschließt. „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen […]“, so Büchners Lenz (MA 145; m. H.). Das Kompositum „Menschheit“ bezeichnet hier – wie bereits im oben analysierten Drama KotzebuesKotzebue, August von – das, was den Menschen ausmacht, sein Wesen, seine Natur.6 Das Gebot („muß“) der Liebe, auch des Respekts und der AchtungAchtung, gilt also dem ‚Menschsein‘ an sich, ohne weitere Bedingungen . Würde (und das heißt hier: das Recht auf Liebe, Respekt, Achtung) kommt dem Menschen als solchem zu. Jeder Mensch verdient als Mensch Achtung und Verständnis7 („verstehen“). Diese Würdeauffassung ist eine moderne: Menschenwürde als jedem einzelnen Menschen angeborene, inhärente, unantastbare Qualität. Im Text wird dies weiter präzisiert. Zunächst ist Lenz’ ästhetische Auffassung streng egalitär: Alle, selbst „die prosaischsten Menschen unter der Sonne“ (MA 144), sind sowohl kunstfähig als auch in ihrer Würde zu achten, denn: „[D]ie Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich“ (MA 144). Eine zutiefst menschliche Emotionalität, EmpathieEmpathie- und Mitleidfähigkeit werden zum Signum der Menschenwürde. Wie im Hessischen Landboten bildet die prinzipielle Gleichheit aller Menschen die ideologische Grundlage für die vertretene Würde- (und hier nun auch Kunst-)Auffassung. Der Verweis auf die niederländischen Maler, den Schings folgendermaßen deutet, unterstreicht dies:
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