Max Graff - Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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Der für den heutigen Wertekanon zentrale Begriff der Menschenwürde wird zwar kontrovers diskutiert, bleibt aber unscharf. Die Literatur als Medium, das in der Uneindeutigkeit und in der Doppelbödigkeit erst seine vollen Sinnpotentiale entfaltet pflegt spätestens seit der Frühaufklärung einen eigenen Menschenwürdediskurs, der nicht bloß außerliterarische Argumentationen reproduziert, sondern die Frage nach der Menschenwürde auf eigene Weise, mit genuin literarischen Mitteln, beantwortet. Die Studie zeichnet die bislang vernachlässigten literarischen Dimensionen der Menschenwürde nach, anhand eines breiten Textcorpus, das von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart reicht und unter anderem Texte von Gottsched, Schiller, Kotzebue, Büchner, Benn, P. Weiss, Schlink, Jelinek und von Schirach beinhaltet.

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Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde

Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de• info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0054-6

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2016/2017 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript geringfügig überarbeitet und um einen Exkurs erweitert. Mein Dissertationsprojekt wurde großzügig von einem AFR-Stipendium des Fonds National de Recherche Luxembourg gefördert.

Zur Entstehung und zum Abschluss dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Ein besonderer Dank gebührt zunächst meinen Betreuern und Gutachtern, Prof. Karin Tebben und Prof. Helmuth Kiesel, die mir die Beschäftigung mit der Menschenwürde in ihrer literarischen Verhandlung bereits für meine Magisterarbeit vorgeschlagen und mir so ermöglicht haben, mich über mehrere Jahre mit einem attraktiven, ergiebigen und begeisternden Thema auseinanderzusetzen. Prof. Tebben hat mich auf stets hilfreiche und beruhigende Weise betreut und mit Kritik, Anregungen, Hinweisen und Ratschlägen unterstützt.

Herzlich danken möchte ich auch Prof. Thomas Wilhelmi, der mich auf Kotzebue hingewiesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge beigesteuert hat. Anregende Gespräche durfte ich zudem mit Dr. Matthias Attig sowie den Organisatoren und Teilnehmern des Maurice Halbwachs Summer Institute in Göttingen 2015 und des Workshops „Collecting Cases“ an der Universität Gent 2016 führen.

Von unschätzbarem Wert für die Genese der Dissertation war zudem der regelmäßige Austausch mit Gleichgesinnten. Für intensive und herausfordernde Diskussionen, Kritik und Bestätigung danke ich meinen wunderbaren Freunden und Kommilitonen Friederike Mayer-Lindenberg, die zu meinem großen Glück auch die Aufgabe der letzten Korrektur übernahm, Bastian Blakowski, Samuel Hamen und Moritz Barske.

Schließlich will ich jenen danken, die mir während der letzten Jahre, auch in komplizierten und unangenehmen Situationen, immer ein geduldiger und liebevoller Rückhalt waren: meiner Lebensgefährtin Nadja und meiner Familie. Meinen Eltern Eugenie und Gilbert ist diese Studie in tiefster Dankbarkeit gewidmet.

Max Graff Heidelberg, im Oktober 2017

Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem –

Ferdinand von SchirachsSchirach, Ferdinand von Terror ( 2015)

Im Oktober 2015 wurde in Frankfurt am Main und in Berlin das Stück Terror des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von SchirachSchirach, Ferdinand von uraufgeführt.1 Die dramatische Situation wirkt zunächst wie ein exemplarisches Szenario aus der juristischen Fachliteratur zum Begriff der Menschenwürde: Ein Major der Luftwaffe hat eigenmächtig und in bewusster Missachtung eines Befehls ein von Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen. Um Tausende Menschen in einem Fußballstadion – dem Ziel der Terroristen – zu retten, hat er den Tod aller Passagiere der Maschine in Kauf genommen.2 Die Bühne wird zum Gerichtssaal; das Stück ist die Fiktionalisierung eines Gedankenexperiments, eine imaginierte Verhandlung des Falles, der sich, mit den Worten des Verteidigers, um die Frage dreht: „Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwürde über die Rettung von Menschenleben zu stellen?“3 Das Stück – im wahrsten Sinne des Wortes ein Schau prozess – behandelt eines der virulentesten verfassungsrechtlichen Themen, nämlich die Frage nach der (Un-)Abwägbarkeit der Menschenwürde.4 Gilt das Verfassungsprinzip der Menschenwürde absolut, wie die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer darlegt, ist der Major zu bestrafen, denn er hat Menschenleben gegeneinander abgewogen und somit juristisch falsch gehandelt. Aus der Perspektive der Verteidigung hat sich der Angeklagte ethisch richtig verhalten; da der Verteidiger das Dogma der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde hinterfragt, fordert er auch aus juristischer Sicht einen Freispruch.

Das entscheidende Moment des Stücks, das bis hierhin konventionell konstruiert ist, ist nun keineswegs, dass im Medium Literatur rechtsphilosophische oder verfassungsrechtliche Probleme durchgespielt werden; die Literatur leistet mehr als die bloße Veranschaulichung oder Illustration theoretischer Konstellationen. Tatsächlich weisen an zwei Stellen Dramenfiguren indirekt auf eine Art ‚Medienwechsel‘ hin. Zu Beginn des ersten Aktes tritt der Vorsitzende vor den Vorhang und wendet sich ans Publikum; zunächst weist er auf die strukturelle Ähnlichkeit von Bühne und Gerichtssaal hin, nur um dann zu verkünden: „Natürlich führen wir kein Theaterstück auf, wir sind ja schließlich keine Schauspieler. Wir spielen die Tat durch Sprache nach, das ist unsere Art, sie zu erfassen.“5 Gegen Ende seines Schlussplädoyers wiederum erklärt der Verteidiger: „Die Welt ist nun einmal kein Seminar für Rechtsstudenten.“6 Diese Sätze muten provokativ sentenzhaft an, sind aber zentral: Natürlich wird gerade ein Theaterstück aufgeführt, und natürlich ist auch die Bühne kein Seminar für Rechtsstudenten. Überdeutlich weist der Text auf seine eigene Literarizität hin7 – und stellt damit die Frage in den Raum: Wie fragt die Literatur nach der Menschenwürde? Kann die Literatur, kann die KunstKunst, Künstler anders, mit ihren ureigenen Mitteln, nach der Menschenwürde fragen und womöglich ganz eigene Perspektiven liefern?

Anders als die juristische Realität, in der das Szenario des gekaperten Flugzeugs bereits auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene entschieden wurde,8 bietet das Stück Alternativen für den Schluss – und genau hier etabliert sich die Literatur als eigenständiges Reflexionsmedium. Das Telos eines jeden Gerichtsprozesses – das Urteil – ist vom Text nicht zwingend vorgegeben, sondern richtet sich nach dem ad hoc -Votum des Publikums; das Stück enthält dementsprechend zwei Schlussvarianten, Schuldspruch und Freispruch. Das Publikum wird an einer Stelle vom Richter gar direkt als „[m]eine Damen und Herren Schöffen“ angesprochen.9 Die vermeintlich klar definierte dramatische Kommunikationssituation wird dadurch auf spektakuläre Weise unterminiert, die Ebenen (Aufführung – Rezeption; Fiktion – Realität; innerfiktionale Figuren – außerfiktionales Publikum) verschwimmen. Mit der demonstrativen Illusionsdurchbrechung bei gleichzeitiger expliziter Integration des Publikums in den Fortgang und die Struktur des Textes rückt das ästhetische Moment in den Fokus, wird sogar innerhalb des wohldefinierten Kontexts – Theater, Aufführung, Dramentext usw. – zum entscheidenden Kriterium erklärt. Nicht mehr rationalRationalität-formalistische, rechtsphilosophische oder rein ethische Faktoren allein sind für die Frage nach der Menschenwürde entscheidend, sondern eben auch emotional-sinnlicheSinnlichkeit, mit denen der literarische Text bewusst operiert. Bestimmte dramaturgische Mittel – Kontrasteffekte,10 Details mit hoher affektiver Potenz,11 die Integration von Gegenpositionen, die den Zuschauer schockhaft-emotional ansprechen sollen,12 illusionsdurchbrechende Elemente – sorgen für jene Konkurrenz, Überlagerung und Vermengung unterschiedlicher Argumentationsebenen, die im literarischen Diskurs möglich, im juristischen hingegen ausgeschlossen sind.

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