Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird in der Literatur kein aktiver Beitrag zum rechten Verständnis menschlicher Würde geliefert, sondern ein implizit-passiver: den literarischen Figuren ist die Würde genommen; sie sind Verzweifelte, die die Last des Weiterlebens nicht mehr ertragen können.10
Die Grundthese, dass die nachklassische bzw. nachromantische Literatur die Vorstellung der Menschenwürde nur noch ex negativo aufruft, wird im Folgenden zu prüfen sein.
Eine genuin ästhetische Dimension der Menschenwürde bestimmt Gilbert D. Chaitin in seinem Beitrag über die innovative, ja revolutionäre Qualität des style indirect libre in Émile Zolas LʼAssommoir (1877). Indem Zola nicht nur aus der Innensicht des Proletariats erzähle, sondern auch dessen Sprache in den discours (Genette) aufnehme, verleihe er gerade den in prekären Verhältnissen lebenden Figuren jene für eine demokratische GesellschaftGesellschaft unerlässliche Menschenwürde.11
Daneben stellen einige Interpreten den Begriff der Menschenwürde durchaus ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit einem einzelnen oder dem Gesamtwerk eines Dichters. Heinz Müller-Dietz untersucht das Werk Georg BüchnersBüchner, Georg aus der Perspektive der naturrechtlichen Menschenwürdevorstellung.12 Udo Ebert – wie Müller-Dietz bezeichnenderweise Rechtswissenschaftler – hat eine Darstellung der unterschiedlichen Facetten der Menschenwürde bei SchillerSchiller, Friedrich vorgelegt, deren methodische Grundvoraussetzung sich mit jener der vorliegenden Studie deckt: Seinen Ausführungen liegt ein abstrakter, inhaltsoffener Würdebegriff zugrunde, dessen Konkretisierungen und Nuancierungen in verschiedenen Schriften Schillers nachvollzogen werden.13 Als Schlüsselbegriff einer eingehenden Faust -Deutung dient die Menschenwürde Thomas Weitin. Er beschreibt GoethesGoethe, Johann Wolfgang Drama als „Gründungstext[], der für die Selbstbehauptung der Menschenwürde am Beginn der normativen Moderne ausschlaggebend ist“, und zeigt, „wie die Menschenwürde ihre universelle normative Geltungskraft aus der Übertragungsleistung einer absoluten Metapher gewinnt“. Weitin betont auch die darstellungsästhetischen Implikationen der Menschenwürde, die im Faust „als etwas [inszeniert werde], das sich der repräsentativen Verkörperung durch eine dramatische Person entzieht“.14
Weniger auf konkrete literarische Verfahrensweisen als auf Status und Potential der Literatur fokussieren sich zwei Ansätze aus der amerikanischen Literaturwissenschaft. Joseph R. Slaughter konstatiert eine „narratologische Allianz“ zwischen dem Bildungsroman der deutschen Klassik und dem internationalen Menschenrechtsdiskurs:15 „Human rights and the Bildungsroman are mutually enabling fictions: each projects an image of the human personality that ratifies the otherʼs vision of the ideal relations between individual and society.“16 Als ‚demarginalisierende‘ Gattung stelle der Bildungsroman ein „kulturelles Surrogat“ dar, das den Glauben an Menschenwürde, MenschenrechteMenschenrechte und deren Allgemeingültigkeit fördert – jenseits rein juristischer Erwägungen, sondern im Prozess der Rezeption und der Diskussion des literarischen Texts.17 In eine ähnliche Richtung geht Elizabeth S. Anker in ihrer Studie Fictions of Dignity , jedoch unter anderen methodologischen Vorzeichen. Ihre dezidiert postkoloniale Herangehensweise ist der Phänomenologie Merleau-Pontys verpflichtet und hinterfragt den „widersprüchlichen Status des KörpersKörper“ im Menschenrechtsdiskurs.18 Anker beklagt, dass liberale Menschenrechtsvorstellungen auf der doppelten Fiktion menschlicher Würde und körperlicher Integrität beruhen, das IndividuumIndividuum hier also quasi körperlos gedacht und die Vorstellung eines „Embodiment“ menschlichen Bewusstseins und Erlebens vernachlässigt wird.19 Ihre Interpretation vierer postkolonialer Romane20 versteht Anker als „embodied politics of reading“; indem sie zeigt, wie literarische Texte ästhetisch das Bewusstsein der körperlichen Verfasstheit des Menschen wiederherstellen, will Anker die vermeintlich vorherrschende Menschenwürdevorstellung, die untrennbar an die körperliche Integrität des Einzelnen geknüpft ist, korrigieren.21
Im Hinblick auf den Anspruch der vorliegenden Arbeit erscheinen diese beiden Positionen ambivalent: Einerseits gehen sie zu Recht davon aus, dass es einen genuin literarischen Menschenwürde- bzw. Menschenrechtsdiskurs gibt und dass dieser als solcher ernst genommen werden muss. Andererseits betrachten sie die Literatur dann doch vor allen Dingen als Korrektur- oder Sensibilisierungsinstanz und beschreiben ihre Funktion für sowie ihren Einfluss auf außerliterarische Diskurse. Gegenüber der präzisen Beschreibung ästhetischer Verfahrensweisen und literarischer Inszenierungen der Menschenwürde tritt das mentalitäts- und bewusstseinsbildende Potential der Literatur in den Vordergrund.22
Paul Michael Lützeler schließlich hat eine Studie vorgelegt, die anhand deutschsprachiger Gegenwartsromane, die sich mit internationalen Bürgerkriegssituationen auseinandersetzen, das Verhältnis von Literatur und einem „Menschenrechtsethos, das auf dem Schutz der Menschenwürde basiert“, untersucht.23 Bei der Analyse dieser Texte, die „Menschenrechtsverletzungen in den Mittelpunk ihrer Darstellungen [rücken]“, greift Lützeler auf ein „Zusammenspiel von Textlektüre, theoretischer Bemühung und historischer Rekonstruktion“ zurück. Er liest die untersuchten Romane als „Teil eines aktuellen Menschenrechtsdiskurses“, an dem Schriftsteller mit ihren eigenen Mitteln, die sich von jenen anderer Disziplinen wesenhaft unterscheiden, partizipieren. Lützeler betont zudem den „ästhetischen Mehrwert“ des literarischen Texts24 – und wählt somit ein Vorgehen, das dem in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen nahe kommt.
5. Von rein rechtlicher Relevanz ist die Menschenwürde, wenn die Literatur ins Zentrum juristischer Auseinandersetzungen rückt. Das prominenteste Beispiel der letzten Jahre ist Maxim Billers autobiographisch gefärbter Roman Esra (2003), dessen Verbot 2007 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, da es Intimsphäre und Persönlichkeitsrechte der ehemaligen Lebensgefährtin des Autors, die im Roman als titelgebende Figur auftritt, verletzt sah. Konkret konfligierten in diesem Fall die Freiheit der KunstKunst, Künstler (Art. 5 Abs. 3 GG), das absolute Menschenwürdepostulat (Art. 1 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG).25
6. Gerade wenn den Textanalysen ein inhaltsoffener Menschenwürdebegriff zugrunde gelegt wird, ist die Nähe zu verwandten Fragestellungen groß, etwa zu Fragen nach den Begriffen der HumanitätHumanität oder des Subjekts, nach dem Status des IndividuumsIndividuum und bestimmter Menschenbilder, nach der Literarisierung und der Legitimität von GewaltGewalt, HässlichkeitHässliche und ObszönitätObszönität, nach dem Verhältnis von Literatur und Recht, nach pornographischen oder grobianischen Motiven, nach dem in der KunstKunst, Künstler Erlaubten.26 Umso nachdrücklicher müssen im Folgenden textuelle Befunde auf den Begriff der Würde fokussiert und auf ihren spezifischen Beitrag zum Menschenwürdediskurs hin befragt werden.
B. Literarische Dimensionen der Menschenwürde: Exemplarische Analysen
I. „Was sich vor mich nicht schickt, das werd ich auch nicht tun“ –
Die Menschenwürde in GottschedsGottsched, Johann Christoph Sterbender Cato ( 1732)
Im deutschsprachigen literarischen Menschenwürdediskurs nimmt der Frühaufklärer und Literaturreformer Johann Christoph GottschedGottsched, Johann Christoph eine Schwellenposition ein. Auf der einen Seite bestimmt er mit einer für den RationalismusRationalismus der Frühaufklärung typischen Systematik die Funktion der Dichtkunst gerade auch im Hinblick auf den Menschen, sein Wesen und seine moralische Disposition. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Menschenwürde zwar zentral für sein Verständnis von Literatur und für die Interpretation seiner ‚Mustertragödie‘ Sterbender Cato ; die intensive theoretische Fundierung und die explizite programmatische Bedeutung, die die Menschenwürde bei KantKant, Immanuel bzw. bei SchillerSchiller, Friedrich erlangt, ist bei Gottsched jedoch lediglich in Ansätzen nachweisbar. Zudem unterscheidet sich das frühaufklärerische Würdeverständnis noch wesentlich von Kants Begriff einer genuin inhärenten Menschenwürde.
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