2. Um zu erklären, worauf die Menschenwürde in concreto gründet, werden verschiedene Paradigmata ins Spiel gebracht. Wetz unterscheidet drei „Bilder“ der Menschenwürde: religiös-christliche, vernunftphilosophische und säkular-ethische.14 Ganz ähnlich argumentiert Schaber, der die drei Schlagworte Vernunft Vernunft, Gottebenbildlichkeit Gottebenbildlichkeit und Freiheit Freiheit anführt.15 Sorgner konzentriert sich auf vier paradigmatische Grundpositionen, die vier Begründungsstrategien entsprechen: die menschliche Vernunftfähigkeit in Verbindung mit der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch (mit dem paradigmatischen Vertreter CiceroCicero, Marcus Tullius), die Gottebenbildlichkeit (Manetti), der freie WilleWille, freier Wille (PicoPico della Mirandola, Giovanni della Mirandola), schließlich die AutonomiefähigkeitAutonomie (KantKant, Immanuel).16 Schüttauf spricht von drei ideengeschichtlichen Hauptlinien, die er mit jeweils einem Adjektiv qualifiziert: Der Mensch besitzt entweder Würde, weil er gut, frei oder brüderlich ist.17
3. Wie auch immer die Menschenwürde letztlich begründet wird, findet sie ihre Konkretisierung in einer Vielzahl von Begriffs- und Erfahrungsfeldern, in „Momente[n] der Würde“,18 deren Bestimmung und Beschreibung selbst wiederum untrennbar zu bestimmten Menschenwürdekonzepten gehören. Diese ‚Leitbegriffe‘19 gilt es im Auge zu behalten, wenn nach Dimensionen der Menschenwürde in einem literarischen Text gefragt wird. Sie konstituieren das semantische Feld der Menschenwürde, dessen einzelne, bisweilen äußerst disparate Elemente im Sinne der Wittgensteinschen Familienähnlichkeit aufeinander bezogen bleiben.20
1 Der Mensch nimmt als Ebenbild Gottebenbildlichkeit Gottes und Krone der Schöpfung Krone (der Schöpfung) eine kosmische Sonderstellung ein; er ist durch seinen besonderen Rang dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung wie auch der Natur an sich übergeordnet.
2 Der Mensch ist aufgrund seines absoluten Werts und seines moralischen Status im Sinne des KantschenKant, Immanuel Kategorischen Imperativs stets als Selbstzweck zu betrachten.
3 Den vernunftfähigen Menschen zeichnet seine Personalität aus; er ist autonomes Autonomie Subjekt seiner Handlungen.
4 Menschenwürde impliziert Willens Wille, freier Wille - und Entscheidungsfreiheit ; der Mensch besitzt ein Recht auf Selbstbestimmung Selbstbestimmung, Selbstverfügung Selbstverfügung und leibseelische Integrität .21
5 Die Menschenwürde verpflichtet die Menschen zu gegenseitiger Achtung Achtung und Anerkennung ; diese manifestieren sich in Kommunikation und Interaktion . Nur so ist auch Selbstachtung Selbstachtung als Voraussetzung von Verantwortung Verantwortung und geistiger Integrität möglich. Achtung und Selbstachtung setzen zudem ein Recht auf Intimität und Privatsphäre voraus.
6 Menschenwürde ist ein universelles, egalitäres Konzept, das die Gleichheit aller menschlichen Wesen als Rechtssubjekte und Toleranz gegenüber allen menschlichen Wesen postuliert.
7 Jedes menschliche Leben ist in seiner Würde zu respektieren; jedem Menschen müssen zumindest minimale materielle Existenzgrundlagen zugestanden werden.
8 Demütigungen , Erniedrigungen und Instrumentalisierungen sind grobe Verstöße gegen die Menschenwürde. Die Bestimmung und Beschreibung von Menschenwürdeverletzungen Menschenwürdeverletzung sind ein hilfreicher Weg, um die Menschenwürde ex negativo zu konkretisieren.22
Diese thesenartigen Formulierungen sind nicht als Versatzstücke einer Definition intendiert; sie machen vielmehr den „Sinnhorizont“ der Menschenwürde sichtbar und sichern ihn als Grundlage für das weitere Vorgehen. Gleichzeitig wird die Gefahr eines inflationären Gebrauchs des Menschenwürdebegriffs offensichtlich; wenn er benutzt wird, müssen sein Gehalt, sein Status und sein Funktionszusammenhang stets präzise umrissen werden.
III. Menschenwürde als ästhetisches Problem – Zu Vorgehen, Korpus und Erkenntnisziel
Die vorliegende Studie fragt nach den literarisch-ästhetischen Dimensionen und Implikationen des so wirkmächtigen wie unscharfen Begriffs der Menschenwürde. Sie stellt dem vielstimmigen Menschenwürdediskurs einen genuin literarischen zur Seite und bestimmt die Relevanz des Menschenwürdebegriffs für die Produktion, Rezeption und Interpretation von Literatur.
Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit ist die Menschenwürde als analytische Kategorie für eine literaturwissenschaftliche Analyse prädestiniert; die Literatur hält Doppelbödigkeit, Ambiguität und das Fehlen endgültiger Lösungen nicht nur aus, sondern kalkuliert bewusst damit und entfaltet erst so ihre Sinnpotentiale. Die Literatur ist in dieser Sichtweise ein Medium, das gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse aufnimmt und spiegelt, aber – und darauf kommt es an – auch eigene Lösungen anbietet.
Eine Untersuchung, die diachron literarische Dimensionen der Menschenwürde nachvollziehen will, steht vor zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten: Zum einen ist der Begriff keineswegs scharf umrissen, sondern sowohl umstritten als auch historisch einem ständigen Wandel unterworfen. An das Textkorpus mit einem engen oder einem bestimmten historischen Verständnis der Menschenwürde (etwa PicosPico della Mirandola, Giovanni oder KantsKant, Immanuel) heranzutreten und dessen literarische Rezeption zu rekonstruieren, wäre zweifellos erkenntnisreich, würde aber stets nur eine bestimmte Dimension der Menschenwürde erfassen. Ebenso wenig führt eine positivistische Suche nach bestimmten Lexemen – ‚(Menschen-)Würde‘, ‚würdig‘, ‚unwürdig‘ usw. – an der Textoberfläche zum Ziel,1 auch wenn solche Belegstellen, falls es sie gibt, einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Den Analysen liegt vielmehr ein abstrakter, inhaltsoffener Menschenwürdebegriff zugrunde, der der oben umrissenen Vieldeutigkeit des Konzepts Rechnung trägt. So können unterschiedliche Aktualisierungen, Perspektivierungen und Konzeptualisierungen der Menschenwürde sowie historische Entwicklungen in ihrer literarischen Verhandlung und ästhetischen Vermittlung erfasst werden.2 Intendiert ist ein analytischer Balanceakt: Die Begriffsgeschichte und Problematisierungen durch die Forschung werden zur Kenntnis genommen, gleichzeitig und vor allem aber soll die Literatur ‚unbefangen‘ zu Wort kommen.
Das Korpus der zu untersuchenden Texte ist bewusst breit und heterogen, d.h. gattungs- und epochenübergreifend angelegt. Die literarischen Texte werden in manchen Kapiteln von poetologischen oder anderen theoretischen Schriften flankiert, um die Wechselwirkungen zwischen programmatischen Positionierungen und literarischer Produktion beobachten zu können. Gelegentliche Exkurse und Seitenblicke, etwa auf die Philosophie SchopenhauersSchopenhauer, Arthur und NietzschesNietzsche, Friedrich oder die Flugblätter der Weißen RoseWeiße Rose, Die, sollen den literarischen Diskurs kontextualisieren. Angestrebt wurde eine Mischung aus kanonischen und eher weniger beachteten Texten, und dies mit der doppelten Absicht, sowohl zu neuen Perspektiven auf stark rezipierte Werke zu gelangen als auch zu zeigen, dass die Menschenwürde abseits des Kanons ein zentrales literarisches Thema ist. Ausdrücklich sollen exemplarische Analysen vorgelegt werden; das vollständige Abdecken aller literarischen Epochen und Strömungen seit der Renaissance ist weder intendiert noch im vorliegenden Rahmen realisierbar. Dass der Frühaufklärer GottschedGottsched, Johann Christoph am Anfang steht, ist nicht zuletzt mit dem SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein, mit dem er den Neuanfang eines dezidiert deutschen Theaters proklamiert, zu begründen. Dabei steht außer Frage, dass auch eine Beschäftigung mit der frühneuzeitlichen Literatur – etwa mit rhetorischen Delegitimationsstrategien in Flugblättern und -schriften, mit grobianischer Literatur oder Märtyrerdramen – im Hinblick auf die Menschenwürde überaus fruchtbar wäre.
Читать дальше