c) Immanuel KantKant, Immanuel bestimmte die Menschenwürde als essentiell ethischen Begriff .33 Von dieser normativ-ethischen Dimension können sich weder juristische noch politische Sichtweisen lösen. Rasante naturwissenschaftliche und medizinische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – Stammzellenforschung, Humangenetik, Palliativmedizin – werfen heikle und komplexe Fragen nach der Trägerschaft und der Reichweite der Menschenwürde auf. Umstritten ist, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt einem Menschen Würde zukommt – und viel grundlegender, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt ein Mensch ein Mensch ist. Zu klären ist zudem, ob Würde an das IndividuumIndividuum, die Person oder die menschliche Gattung gebunden ist.34 Trotz des Vorwurfs des Speziesismus bleibt Würde in der Regel ein anthropozentrisches Konzept; von einer „Würde der Kreatur“ zu sprechen, wie es die schweizerische Verfassung seit 1992 tut, hat sich weder in der Forschung noch in der internationalen (Rechts-)Praxis durchgesetzt.35
d) Im Begriff der Menschenwürde prallen der Ballast jahrhundertelanger Tradition, moderne Anforderungen an die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie und ein immer stärker naturalisiertes Weltbild aufeinander. Nicht nur können evolutionsgeschichtliche und neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlagen der Menschenwürde36 und somit die Berechtigung des Begriffs an sich in Frage stellen.37 Deutet man Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte ausschließlich als „Derivate“ der jüdisch-christlichen Tradition38 und somit als notwendig metaphysische Begriffe, die ohne metaphysische Absicherung undenkbar sind,39 wird ihre Aussagekraft in Diskursen säkularer Gesellschaften fraglich. Andererseits scheint der Menschenwürde der eigenartige Status eines zivilreligiösen „Glaubensartikel[s]“ zu eignen, der „transsäkulare[] Bedürfnisse“ anspricht und stillt.40 Demgegenüber steht ein Verständnis der Menschenwürde als primär praktisches oder pragmatisches Problem, das dem konkret-subjektiven Moment den klaren Vorrang vor systematischen theoretischen Bemühungen gibt.41
e) Mehrere Interpreten erklären das Eigentümliche der Menschenwürde, indem sie sie als „absolute Metapher“ im Sinne Hans Blumenbergs beschreiben.42 Diese Charakterisierung ist in zweifacher Hinsicht glücklich: Zum einen konzeptualisiert sie die schwer konkret fassbare begriffliche Polyvalenz der Menschenwürde und den Eindruck, dass sie intuitiv eben doch recht klar begreifbar ist.43 Zum anderen eröffnet der Gebrauch eines ursprünglich rhetorischen Begriffs („Metapher“) eine neue Diskussionsebene: Menschenwürde wäre demnach nicht nur streng positivistisch und logisch-rationalRationalität erfassbar, sondern eben auch ein „empfundener Begriff“ (Schreiber), den man erleben und erfahren kann.44 Zudem scheint gerade ein rhetorischer Gebrauch von Sprache zum Verständnis der Menschenwürde Entscheidendes beitragen zu können. Menschenwürde wäre somit ein ästhetischer Begriff in einem doppelten Sinne: ein Begriff, der eine auch sinnlichSinnlichkeit anschaubare Dimension besitzt, der überdies gerade in seiner künstlerischKunst, Künstler-sprachlichen Verhandlung und der dadurch beim Rezipienten provozierten Reflexion erst vollständig erfasst werden kann.45
f) Huizing beschreibt das Verhältnis zwischen Menschenwürde und KunstKunst, Künstler wie folgt:
[Ich] behaupte, daß ethische und rechtswissenschaftliche Untersuchungen zum Thema ‚Menschenwürde‘ darauf angewiesen sind, ästhetische Darstellungen aufzusuchen, um die eigene Sensibilität für Wahrnehmungen kritischer Situationen zu schulen, damit die ethische oder juristische Urteilsfähigkeit geschmeidig bleibt für die Aufnahme individueller Schicksale.46
Literatura ancilla theologiae, philosophiae et doctrinae juris ? Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass Selbstverständnis, Funktion und Potential der Literatur essentiell über jene einer Hilfsdisziplin und eines bloßen Sensibilisierungsmediums hinausreichen, und genuin ästhetisch-literarische Dimensionen der Menschenwürde herausarbeiten.
II. Facetten des Menschenwürdebegriffs
Menschenwürde ist ein „offener Begriff ohne Randschärfe“; Versuche einer abschließenden inhaltlichen Definition müssen notwendigerweise scheitern.1 Soll sie als analytische Kategorie taugen, muss dennoch der „Sinnhorizont des Würdebegriffs“2 – mit seiner geistesgeschichtlichen Vorbelastung und seiner vermeintlichen Schwammigkeit – möglichst präzise abgesteckt werden. Diese systematische Annäherung erfolgt in drei Schritten, indem 1. konzeptuelle Differenzierungen vorgestellt, 2. grundlegende Begründungsmuster eingeführt und 3. Konkretisierungen der Menschenwürde anhand von Leitbegriffen und -vorstellungen genannt werden. Auf das eingeführte Vokabular wird im Laufe der Argumentation immer wieder Bezug genommen werden.
1. Die Literatur zur Menschenwürde unterscheidet zwei große Linien. Diese beiden übergeordneten Konzeptualisierungen stehen sich dichotomisch gegenüber, sind tendenziell den Kategorien der Realität auf der einen und der Idealität auf der anderen Seite zuzurechnen und erscheinen in unterschiedlichen terminologischen Akzentuierungen. Zu unterscheiden ist demnach zwischen einer Form der Würde, die dem Menschen als Menschen und ohne Vorbedingung eigen ist, und einem Würdeverständnis, das dem antiken dignitas -Begriff3 näher steht. Dies führt zu folgenden Dichotomien:
angeborene vs. erworbene Würde
inhärente / notwendige vs. kontingente Würde4
apriorische vs. aposteriorische Würde5
autonomische vs. heteronomische Würdebegriffe6
deskriptive vs. normative Würdebegriffe
Würde als abstraktes Wesensmerkmal vs. Würde als konkreter Gestaltungsauftrag7
Würde-Haben vs. Würde-Verdienen8
Würde als Moment des Menschseins vs. Würde als Moment der Sozialität des Menschen9
Würde als Eigenschaft oder Anrecht vs. Würde als Lebensform10.
Tendenziell ist Würde im ersten Fall eine unverlierbare, nicht abstufbare, absolute Qualität, im zweiten eine prekäre, graduierbare, die eingebüßt werden kann. Franz Josef Wetz betont, dass – aus begriffs- und kulturgeschichtlicher Perspektive – die beiden Pole nur selten in Reinform auftreten und sich meist verbinden: Würde also als angeborene Qualität, derer sich der Mensch würdig erweisen muss.11
Dietmar von der Pfordten schlägt eine Auffächerung in vier „(Teil-)Begriffe[] der Menschenwürde“ vor und unterscheidet eine große , eine kleine , eine mittlere und eine ökonomische Würde. Die große Menschenwürde bezeichnet eine „ nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen “, während die kleine Würde die „ nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen“ meint. Die mittlere Würde hingegen beschreibt die „ äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen“ bei gleichzeitiger Betonung der „ natürliche [n] und damit im Prinzip unveränderliche [n] Gleichheit dieser sozialen Stellung aller Menschen“. Die ökonomische Würde fokussiert die ökonomischen Bedingungen der Menschenwürde.12
Um die vielfältigen Interpretationen der Menschenwürde zu kategorisieren, hat sich schließlich eine weitere Begriffsreihe etabliert. So unterscheidet man zwischen Leistungstheorien (oder Leistungskonzepten ), die Würde an ein bestimmtes Verdienst knüpfen, Mitgift- oder Werttheorien , die Würde als eine dem Menschen verliehene oder inhärente Qualität definieren, Kommunikations- oder Anerkennungstheorien , denen zufolge Würde erst durch soziale Interaktion und Wahrnehmung entsteht, und (seltener) Bedürfnistheorien , die an konkrete Bedürfnisse des Menschen anknüpfen.13
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