Zudem nennt KotzebueKotzebue, August von die Quellen, die ihm „den Stoff geliefert“ haben (NS 3).4 Nicht als Quelle erwähnt, im Laufe des Stückes von Namensvetter William aber mehrmals als Gewährsmann und Hoffnungsträger genannt (NS 55 und 65) wird William WilberforceWilberforce, William, der sich u.a. im Mai 1789 im britischen House of Commons für die Abschaffung der Sklaverei aussprach; seine Rede muss Kotzebue gekannt haben.5 Die Figur William, gleichsam der HeldHeld des Dramas,6 dient als fiktionales Sprachrohr des historischen Wilberforce, den „sein edles Herz zum Redner der Menschheit aufforderte“ (NS 55) und „der euch [i.e. die Sklaven; MG] liebt; der Tag und Nacht auf eure Befreyung sinnt, und von der schoͤnen Glut der Menschenliebe erwaͤrmt, mit feuriger Beredsamkeit eure Rechte vertritt“ (NS 65). Am historischen Wilberforce lobt William zwei Eigenschaften: seine rhetorischen Fähigkeiten und seine humanitas , sein argumentatives und sein emotionales Engagement für die Sache der Sklaven. Ebendiese beiden Strategien verfolgt auch Kotzebues Drama.
III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde in Dialogen der Figuren William und John
Nachdem in den ersten beiden Szenen des ersten Aktes ausschließlich Sklavenfiguren zu Wort kommen, die expositorisch von ihrem Leid und von dem sich anbahnenden Konflikt um Johns Liebe für die Sklavin Ada berichten, deren Herz jedoch dem in Afrika zurückgelassenen Gatten Zameo gehört, werden die ungleichen Brüder William und John eingeführt. In zwei Dialogen (in den Szenen I,3 und I,6) stehen sich die beiden in einem ‚ideologischen Duell‘ gegenüber. Diese Dialoge muten wie eine argumentative Exposition an, fügen sie der eigentlichen Handlung um die Sklaven doch einen interpretatorischen, theoretischen Rahmen hinzu: William und John entfalten zwei entgegengesetzte Ansichten über das Wesen und den Status der Sklaven und stecken somit den begrifflichen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Wahrnehmung und Bewertung der Sklaven durch die Rezipienten bewegen soll.
Vorbereitet wird die Schlüsselszene I,6 durch einen kurzen Wortwechsel in Szene I,3:
John. (im Gespraͤch begriffen) Nein Bruder, das verstehst du nicht. Ich habe den CiceroCicero, Marcus Tullius nie gelesen; aber wenn ich, statt Hunger und Peitsche, mir einen Redner halten wollte, der die Sklaven an ihre Pflichten erinnerte –
William. (zwischen den Zaͤhnen murmelnd) Haben Sklaven auch Pflichten?
John. Thut der englische Bauer recht, wenn er seinen Ochsen vor den Pflug spannt, und die Peitsche uͤber ihm schwingt?
William. Ein herrliches Gleichniß. (NS 17–18)
In den Augen des Plantagenbesitzers sind Sklaven TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung; Zweck ihres Daseins ist, für ihren Besitzer zu arbeiten. William weist sarkastisch auf den argumentativen Fehler seines Bruders hin: John spricht von den „Pflichten“ der Sklaven, dabei ist die Pflicht weniger eine ontische Kategorie als eine Zuschreibung, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht. Ironischerweise bezieht sich John selbst in seiner Rede auf CiceroCicero, Marcus Tullius; dieser grenzt in seiner Schrift De officiis (dt. „Von den Pflichten“ oder freier „Vom rechten Handeln“), die gemeinhin als Beginn der Begriffsgeschichte der (Menschen-)Würde betrachtet wird,1 den Menschen gerade wegen seiner Fähigkeit, richtig und pflichtgemäß zu handeln, vom Tier ab.2 Wenn John also den Sklaven Pflichten, auch im Sinne moralischer Verpflichtungen, zuschreiben will, muss er ihren Status als Menschen, die Würde und Rechte besitzen, anerkennen – was er nicht tut, vergleicht er doch unmittelbar danach den Sklaven mit einem Ochsen. Die Regieanweisung („zwischen den Zaͤhnen murmelnd“) beschreibt nicht nur Williams eigene Gemütslage, sondern suggeriert dem Publikum, dass Johns Position und ihre Legitimation zumindest problematisch sind. Noch wird die Rechtfertigung der Sklaverei nicht direkt negiert; William belässt es bei einem sarkastischen Kommentar („Ein herrliches Gleichniß“).
In Szene I,6 verteidigt William explizit die Menschenwürde der Sklaven und prangert ihre menschenunwürdige Behandlung an. Der Dialog zwischen den Brüdern wird zum veritablen ‚Rededuell‘, das die jeweiligen Positionen profiliert. William entfaltet seine Auffassung von der Menschenwürde nicht monologartig, sondern greift mit verschiedenen Argumenten und Einwürfen seinen Gegenspieler John an. Die Figuren arbeiten einen Gedanken nach dem anderen, ein Argument nach dem anderen regelrecht ab. KotzebueKotzebue, August von wollte offenbar sicherstellen, dass die Rezipienten den Gedankengängen folgen können – nicht nur die Leser des gedruckten Textes, sondern auch die Zuschauer im Theater, die die kognitive Verarbeitung des Gehörten in kürzerer Zeit leisten müssen.
John plagt kein schlechtes Gewissen; an die Schreie der misshandelten Sklaven hat er sich längst gewöhnt. Schockiert ruft sein Bruder aus: „[K]ann nur der Mensch allein sich an Alles gewoͤhnen, und von Allem entwoͤhnen, sogar von der Menschheit!“ (NS 33). Im 18. und 19. Jahrhundert meint das Lexem „Menschheit“ das, was den Menschen als Menschen ausmacht.3 Bei KantKant, Immanuel besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen „Menschheit“ und Würde: „Die Menschheit selbst ist eine Würde […]“.4 Wenn sich John in Williams Augen von der Menschheit entwöhnt hat, hat dies eine doppelte Bedeutung: John sieht in den Sklaven keine Menschen (mehr) – vermutlich hat er es nie getan. Vor allem aber äußert sich in seinem Umgang mit den Sklaven ein vollkommenes Fehlen von Menschlichkeit , von AchtungAchtung vor dem Gegenüber – denn diese setzen die Anerkennung des Anderen als Menschen voraus. Insofern er diese vermissen lässt, kompromittiert er seine eigene Menschenwürde.
Kurz darauf fragt William explizit nach dem Status der Sklaven:
Will. – Sage mir Bruder, haͤltst du deine Sklaven für Menschen? […]
John. Ich behandle sie wie Menschen. […]
Will. (spoͤttisch) Wuͤrklich?
John. Ich gebe ihnen zu essen und zu trinken.
Will. Das giebst du deinen Hunden auch.
John. Sie sind auch nicht viel besser als Hunde. Glaube mir, Bruder, es ist eine eigene Race zur Sklaverey gebohren. (NS 33–34)
Johns Behauptung ist zynisch; er entmenschlicht seine Sklaven – auch sprachlich. John und der Meisterknecht, dem als Schwarzer in Diensten der Weißen die problematische Rolle des grausamen Sadisten zukommt, verwenden immer wieder Tiermetaphern und -vergleiche. Diese gewaltsame sprachliche TheriomorphisierungTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung der Sklaven, die ihrer Behandlung durch die Sprechenden entspricht, durchzieht das Stück. Auch die Sklaven selbst vergleichen sich mit Nutz- oder Haustieren.5
John reduziert das Menschsein und die Menschenwürde zu rein physiologischen, mechanistischen Begriffen: Die (gerade noch arbeitsfähigen) Sklaven sind, was ihre Körperfunktionen betrifft, Menschen. Tatsächlich verschwimmt dann die Grenze zu den zumindest physiologisch ähnlich beschaffenen Nutz- und Haustieren – was John wie selbstverständlich bestätigt. Seine Argumentation ist jedoch zutiefst inkonsequent: Einerseits stellt er zynisch die menschliche IdentitätIdentität der Sklaven fest, wenn es um ihren Unterhalt geht. Andererseits betont er die Differenz zwischen Sklaven und europäischstämmigen Menschen, um die Sklaverei an sich und die entwürdigendeEntwürdigung Behandlung der Sklaven zu rechtfertigen.6 Denn Afrikaner stellen laut John eine eigene „Race“ dar, die sich von jener der europäischen Kolonialherren wesenhaft unterscheidet und deren Mitglieder keineswegs als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem bestimmten Zweck – „zur Sklaverey“ – zu betrachten seien. Die Regieanweisung („spoͤttisch“) gibt nicht nur die unmittelbare Reaktion der innerfiktionalen Figur William vor, sondern deutet auch an, wie die Rezipienten auf John reagieren sollen: ablehnend. Dieser moraldidaktische Impetus wird in der sehr konstruiert wirkenden Szene überdeutlich. Auf teilweise stichwortartige Fragen Johns7 folgen jeweils mehr oder weniger ausführliche Widerlegungen Williams. Johns anaphorisches „Aber“ (vgl. NS 35–36), mit dem er seine Argumente und Fragen einleitet, wirkt lächerlich, macht aber die Funktion des Wortwechsels klar: Es geht um die Kreation einer schroffen (auch rhetorischen) Opposition, deren Positionen implizit eindeutig bewertet werden. Das didaktische Prinzip These – Antithese oder argumentatio – refutatio , das scheinbar allgemeine Vorurteile oder mögliche Einwände des Rezipienten vorwegnimmt und verbalisiert, wirkt in seiner Holzschnittartigkeit zwar plump, lässt die dem Stück zugrundeliegende Intention jedoch umso schärfer hervortreten.
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