Zusammengefasst und auf die Frage nach der Menschenwürde zugespitzt hieße das: Die ästhetische Würde bleibt tendenziell eine utopische Kategorie, die die eminente gesellschaftliche Stellung und politische Bedeutung der KunstKunst, Künstler und des Dichters53 legitimiert. In der literarischen Praxis bleibt jedoch die erhabene Würde die entscheidendere Kategorie, die mit einer klaren (dramen)poetischen Wirkabsicht verbunden ist.54
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SchillersSchiller, Friedrich Betonung der ästhetischen Würde des Menschen sowie der erhabenen Würde und ihrer ästhetischen Implikationen birgt die Gefahr einer idealistischen Verkürzung des Menschenwürdebegriffs, die vom IndividuumIndividuum, seinem sozialen Kontext und seiner sozialen Bedingtheit zugunsten des normativen Ideals abstrahiert.55 Obwohl Schiller die Menschenwürde durchaus auch als inhärente Qualität denkt, besteht das Risiko, dass sie nur noch als Ideal, als menschliche Potentialität, als Auftrag erscheint, in demselben Maße, in dem KunstKunst, Künstler zu einer eskapistischen, elitären, auf jeden Anspruch auf realgesellschaftliche Relevanz verzichtenden Ersatzwelt zu werden droht.56 Genau diese Vorstellung – Würde als rein ästhetisches Ideal57 – und ihre bildungsbürgerliche Aneignung werden zur Angriffsfläche für radikal antiklassische literarische Gegenentwürfe, u.a. bei BüchnerBüchner, Georg, Kleist, den Naturalisten und Expressionisten.
II.7. Ausblick: Die Menschenwürde bei GoetheGoethe, Johann Wolfgang
Dem Lexem ‚(Menschen-)Würde‘ kommt bei GoetheGoethe, Johann Wolfgang nicht der zentrale gedanklich-programmatische Stellenwert zu, den es in SchillersSchiller, Friedrich Werk einnimmt.1 Dabei sind jene Fragen, die Schillers Auseinandersetzung mit der Würde fundieren, natürlich auch Goethes Themen: die persönliche AutonomieAutonomie des Menschen, Konflikte von RationalitätRationalität und Gefühl, von Sollen und Wollen, die Bedingungen der Möglichkeit freier Sittlichkeit, die Stellung des Subjekts und sein Verhältnis zur Natur usw. – nur fokussiert Goethe diese nicht wie Schiller auf den Begriff der Menschenwürde. Auch die Goethe-Philologie hat ihre Analysen meist auf andere Termini zugespitzt: HumanitätHumanität, Bildung, Geselligkeit, Entsagung.2 Besonders die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten , teilweise parallel zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in den Horen publiziert, wurden als „Gegenentwurf“ gelesen,3 der statt geschichtsphilosophisch perspektivierter Erziehung durch die KunstKunst, Künstler das Ideal individueller Bildung, auch des Dichters, propagiert, gleichsam eine Pragmatisierung und Konkretisierung des Schillerschen Projekts, seiner Sicht auf Rolle und Einflussmöglichkeit des Künstlers – und nicht zuletzt seines Würdeideals. Goethes bereits 1783 in Das Göttliche formulierter Imperativ: „Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut!“ ist programmatisch. Die menschliche Fähigkeit zur MoralitätMoral, Moralität ist zwar auch an ein Ideal gebunden, doch weiß das Gedicht genau um den ‚Ort‘ des Menschen: „Nach ewigen, ehrnen, / Großen Gesetzen / Müssen wir alle / Unseres Daseins / Kreise vollenden“, der „unfühlend[en] / […] Natur“ und dem „Glück“ ausgeliefert. Nur in diesen engen, innerweltlichen ‚Grenzen‘ kann der Mensch versuchen, ein „Vorbild / Jener geahndeten Wesen“ zu sein.4 Wenn AdornoAdorno, Theodor W. an Goethes Humanitätsdrama Iphigenie auf Tauris mit Blick auf die Taurer bemängelt, dass „[d]ie Opfer des zivilisatorischen Prozesses, die, welche er herabdrückt und welche die Zeche der Zivilisation zu bezahlen haben, […] um deren Früchte geprellt worden [sind], gefangen im vorzivilisatorischen Zustand“, dann verweist er auf eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch des Humanitätsideals und seiner Anwendbarkeit auf die soziohistorische Realität;5 wenn nun Goethe, wenn auch unter anderen Vorzeichen, gegenüber Schillers ästhetischem Erziehungsprojekt ähnliche Vorbehalte hat, dass nämlich Humanität und Menschenwürde als utopische Ideale, reine Abstraktionen oder gedankliche Konstruktionen nur schwer in die Realität zu transponieren sind, entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie. Und doch ist diese Konstellation bezeichnend und in einem doppelten Sinne entscheidend für die Bewertung der Menschenwürde in der Zeit der Weimarer Klassik. Ist sie ein ästhetisches Problem in dem Sinne, dass sie durch die Kunst und die Literatur hervorzubringen oder zu fördern ist, stellt sich die Frage nach ihrer konkreten literarischen Inszenierung – etwa durch ‚lebensechte‘ Figuren, die eben nicht nur reine Ideenträger sind wie Iphigenie. Ist Menschenwürde insofern ein ästhetisches Problem, als sie überhaupt nur in der und durch die Kunst denkbar ist, etwa weil es dem Theoretiker (Schiller, MoritzMoritz, Karl Philipp) primär um die Kunst an sich, ihren Rang und ihre Apologie geht, dann rückt die Frage nach Praktikabilität und Relevanz der Menschenwürde in der ‚Wirklichkeit‘ in den Hintergrund. Diese Aporien des klassischen Humanitäts- und Menschenwürdediskurses gewinnen vor der Folie der noch zu untersuchenden Texte KotzebuesKotzebue, August von und v.a. BüchnersBüchner, Georg umso schärfere Gestalt.
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Zwei Forschungsstimmen zielen pointiert auf den Begriff der Menschenwürde ab; sie nehmen die angedeuteten Aporien in den Blick und zeigen Ansätze ihrer Überwindung auf. Michael Hofmann beschreibt, wie GoetheGoethe, Johann Wolfgang und SchillerSchiller, Friedrich gegen Ende der Weimarer Klassik das „Humanitäts-HumanitätParadigma“ erneuern – indem sie den Menschenwürdebegriff ausweiten:
Ein wesentliches Problem des konventionellen Humanitäts-HumanitätDenkens erkennen SchillerSchiller, Friedrich und GoetheGoethe, Johann Wolfgang […] in der Unterordnung des Einzelnen unter Allgemeines, unter eine teleologisch verstandene Entwicklung der Menschheit oder unter ein objektivistisch verstandenes Ganzes der Natur. Die Würde des einzelnen Menschen wurde in der Aufklärung und in den Humanitäts-Entwürfen der frühen Weimarer Klassik als Teilhabe an dem Prozess der ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ oder in seiner Integration in ein sinnvoll geordnetes Naturganzes gesehen.6
In ihrem Spätwerk entwickelten die Weimarer Dioskuren dagegen einen integrativen Menschenwürdebegriff, der auf vier „Aporien der ‚HumanitätHumanität‘“ reagiere: die „Aporie eines ‚Despotismus der FreiheitFreiheit‘“, der den einzelnen Menschen einer übergeordneten Idee opfere; die „Aporie der ‚schönen Seele‘“, die die Frau gleichzeitig idealisiert und reduziert; die „Aporie des ausgeschlossenen Barbaren“; schließlich die „Aporie einer Ästhetik des ausgeschlossenen Verdrängten“.7 Korrigierende Tendenzen sieht Hofmann im Faust , in der Jungfrau von Orleans , im West-Östlichen Divan bzw. in der Nänie : „Was vom Humanitäts-Denken bleibt und was stärker gemacht wird als vorher, ist der Gedanke der Menschenwürde, der in einem neuen Sinne universalisiert wird, indem er auch gegenüber dem Fremden, Bedrohlichen geöffnet wird.“8 Freilich sollte man von einer Universalisierung in Ansätzen sprechen, die alles andere als radikal ist, zumindest aber ein Bewusstsein für die Inkommensurabilität von Würdeideal und politisch-sozialer Realität zeigt.
Thomas Weitin interpretiert GoethesGoethe, Johann Wolfgang Faust als Schlüsseldokument des Menschenwürdediskurses, als „Gründungstext[], der für die Selbstbehauptung der Menschenwürde am Beginn der normativen Moderne ausschlaggebend ist“.9 Fausts Ausspruch während des Osterspaziergangs: „Hier bin ich Mensch, hier darf ichʼs sein“ deutet Weitin als performativen Sprechakt, als „Selbstbeobachtung eines seiner Menschlichkeit gewahr werdenden Subjekts, das sich als solches erkennt, benennt und in der sprachlichen Bezugnahme auf sich augenblicklich aufersteht“ und somit „die Menschenwürde hervorbringt“.10 Für Weitins Lektüre sind die Begriffe „Selbstbehauptung“, „Selbstschöpfung“ und „Selbstgesetzgebung“ zentral; gleichwohl sieht er Faust mitnichten als Sympathie weckende „Ideal-Figur“.11 Ebenso wenig kann Menschenwürde in Weitins Argumentation dramatisiert, d.h. durch eine Figur verkörpert werden:
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