Abb. 7:
Daniel Nikolaus CHODOWIECKI, Nations, loués le Seigneur! In: Les Pseaumes de David en Vers avec des prières aux dépens de la Compagnie du Consistoire. Berlin: G. J. Decker, Imprimeur du Roi, 1783. Titel-Kupfer zu den Psalmen. Radierung 1782. Wieder abgedruckt in: Jens-Heiner BAUER, Daniel Nikolaus Chodowiecki. Das druckgrafische Werk. Hannover: Verlag Galerie J. H. Bauer 1982, S. 146, Tafel 964.
Der Akademiesekretär Jean-Henri Samuel Formey berichtete 1785 in einer Rede zum 100jährigen Jubiläum des Potsdamer Edikts über seine Sprachkenntnisse und die der ersten Generation der Réfugiés . Er habe die deutsche Sprache wie eine tote Sprache gelernt. Parallel dazu bestätigte er, dass das Französischevielerorts in den ursprünglichen Hugenottengemeinden nicht mehr verstandenwürde:
Encore assez imparfaitement, pour la conversation, [on apprend la langue allemande, A.R.], comme on apprend les langues mortes. […]. Pour les Réfugiés qui n’ont pas eu ces raisons & ces occasions de parler allemand, on les a vus mourir dans l’âge le plus avancé, ne sachant que leur langue, ou même leur patois. Quelques uns d’entr’eux, quand on leur fasoit des reproches à ce sujet, repondoient: Que peut-on apprendre en cinquante ans. […] Je n’ignore pas que plusieurs causes ont diminué les troupeaux, & qu’une des principales est le mélange des deux Nations, qui a fait passer plusieurs membres de nos Eglises dans les Eglises Allemandes des villes, & encore plus de la campagne. Cette langue que les premiers Réfugiés ne pouvoient apprendre, a pris tellement le dessus que la langue maternelle à son tour est devenue inintelligible, & qu’en bien des endroits on ne peut plus s’en servir pour l’instruction des Catéchumes.50
In den politischen Umwälzungen 1814 kam es zu einer für den Fortbestand der französischen Kirche entscheidenden Debatte zwischen den beiden französisch reformierten Pastoren David Louis Théremin und Jean Henry. Théremin51 hatte in einer (bezeichnenderweise auf deutsch verfassten) Streitschrift die zentrale Frage aufgeworfen:
Ist es aber vernünftig, daß dieser Gottesdienst in französischer Sprache noch fortdaure, wenn schon der größte Theil der Gemeinen von dieser Sprache nichts mehr verstehet und sich unmöglich in derselben erbauen kann? Betet man Gott an, wenn man nicht weiß, was man hört oder was man selbst spricht?52
Die französische Sprachewar nach Théremin damit zur reinen Gottesdienstsprachegeworden: „im gemeinen Leben spricht sie schon Niemand mehr.“53
Gleichzeitig lehntThéremin den Einsatz der französischen Sprache im Religionsunterricht ab.Der Lehrersollte
sich zu dem Gedanken-Kreise seiner Schüler herablassen, daraus seine Gleichnisse, seine Beispiele nehmen, wie es Jesus, unser höchstes Vorbild that; er muß, mit einem Wort ihre Sprache reden. Unsere Jugend lernt aber zuerst Deutsch sprechen; die französische Sprache ist fremdfür sie. Soll sie in dieser den Unterricht bekommen, so muß sie während desselben nicht nur die Sachen, sondern auch die Sprache lernen. Wie sehr wird ihr dadurch das Lernen schwer und unangenehm, das der Lehrer so viel Ursache hat, leicht, faßlich und anziehend zu machen.54
Théremins Schrift hat angeblich Friedrich Wilhelm III. dazu ermuntert, seinerseits für die Beseitigung des Französischen einzutreten.55 Jean Henry und eine Reihe Berliner Pastoren haben sich erfolglos für die Beibehaltung der französischen Spracheeingesetzt, denn die Berliner Kirchengremien gaben allmählich ihren Widerstand gegen die deutsche Sprache auf. Genauso erging es den übrigen preußischen Réfugiés- Gemeinden. So hatte sich deutsch als Gottesdienstsprache in den französisch-reformierten Gemeinden bis 1831 durchgesetzt.56
I. 6 Grundlegende Reformideen der Dessauer Philanthropen und die Auswirkung auf den Musikeinsatz im Unterricht
I. 6. 1 Hauchecorne, Rochow und Basedow als Wegbereiter des Philanthropismus
Hauchecorne spielt nicht nur eine wichtige Rolle als Theologe, sondern auch als Pädagogeund Erzieher. In seiner autobiographischen Schrift Ma carrière pédagogique de cinquante ans stellt er seinen pädagogischen Werdegangvor. Hauchecorne kann als einer der „umtriebigsten Pädagogen der französischen Kolonie“ bezeichnet werden.1 Nachdem er das Französische Gymnasium in Berlin besucht hatte, studierte er Theologie am Séminaire und war als Repetitor für Griechisch in den höheren Klassen tätig.2 Seine besonderen pädagogischen Fähigkeiten3 bewies er als Katechet ( Ministre catéchiste ) der französisch-reformierten Gemeinde und an der École de Charité , am Waisenhaus sowie als Privatlehrer und Erzieher, als Inspektor des hugenottischen Schullehrerseminars ( Pépinière des chantres et maîtres d’école ). Nach Prüfung durch das französische Generaldirektorium gründete er sein eigenes Erziehungsinstitut, das in seinem Haus untergebracht und auf die Erziehung von Knaben aus gehobenen Familien des europäischen Adels ausgerichtet war.4 Unter seinen Schülern soll auch Heinrich von Kleist gewesen sein.5 In dieser sogenannten Ritterakademie6 wurden die Knaben in den Elementarfächernunterrichtet. Dieser Elementarunterrichtging weit über die Vermittlung der gängigen Bildungsrudimente hinaus.7 Seine Lehrbücher zeigen bereits realienkundliche Inhalte.8 In den höheren Klassen erfolgte eine Ausbildung entsprechend den beruflichen Vorstellungen der Zöglinge. Neben Latein, Französisch, Englisch, Deutsch, Geographie, Geschichte, Arithmetik, Zeichnen, dem Lesen nützlicher und geistreicher Bücher, Moral und biblischer Geschichte wurden unter anderem auch angewandte Mathematik,9 Experimentalphysik, Schifffahrt, Mechanik, militärische Baukunst und Landwirtschaft unterrichtet.
Das im Unterricht erworbene theoretische Wissenwurde durch Ausflüge, Reisen und praktische Übungen gefestigt. Es zeigen sich aufklärerische und reformpädagogischeElemente und Ansätze von Künstlerwerkstätten,die später in Kerschensteiners Arbeitsschuleund der WaldorfpädagogikAnwendung finden:10
Ich bin davon überzeugt, […], dass für den Staat der größte Vortheil daraus erwächst, wenn seine Bürger in ihrer Jugend die gehörige Anleitung zur Thätigkeit, zu guten Sitten und menschenfreundlichen[meine Hervorhebung, A. R.]11 Gesinnungen erhalten haben. […]. Das Kind ist, wie die junge Pflanze, biegsam. Auch ohne harte Strafen, vermittels eines auf Achtung und Ernst gegründeten Ansehens, kann man eine zahlreiche Jugend an einen Grad von Folgsamkeit und Gehorsam gewöhnen.12
Bereits im obenstehenden Zitat wird Hauchecornes Nähe zuden Philanthropen13 deutlich. Die Bewegung wurde von Johann Bernard Basedowinitiiert, den Hauchecorne in Dessau persönlich kennen lernte.14
Basedow hatte dort 1774 das berühmte Philanthropingegründet, eine „ Werkstätte der Menschenfreundschaft“.15 Es handelt sich um eine Versuchsschulemit Internat, deren Entwicklung von der an pädagogischen Reformen interessierten Öffentlichkeit verfolgt wurde.16 Die Philanthropen standen unter direktem Einfluss von Jean-Jacques Rousseaus Pädagogik vom Kinde aus, die mit seinem Émile ou de l’éducation „eine kopernikanische Wende“17 in der Entwicklung des Schulwesens und der Pädagogik markierten.
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