In den französischen Gemeinden war damit das Standardfranzösischedie Sprache für Kult, Bibel- und Katechismusunterricht.27 Die Verwendung des Hugenottenpsalters28 kann in den reformierten Gemeinden als Gradmesser der Verwendung des Französischen in den Hugenottenkoloniengelten. Die französische Sprache im Gottesdienstwar „zum ausschlaggebenden Identifikationskriteriumgeworden“.29 Die sprachliche Akkulturation, also das Hineinwachsen der Hugenotten in die neue kulturelle Umwelt, die sprachliche Integration dieser Migranten, die schrittweise ihre Sprache aufgaben und zur deutschen Sprache übergingen, kann als komplexer Prozessverstanden werden. Ein Sprachwechselim Sinne von Weinreichs language shift 30 umfasst den Wechsel im habituellen Gebrauch einer Sprache zur anderen und untersucht dabei auch die sozialen Aspekte als Phänomen des Sprachkontakts.31 Manuela Böhm charakterisiert den Sprachwechsel als
komplexe[n] Prozess, der generell darin besteht, dass innerhalb eines beobachteten Zeitraums immer mehr Sprecher einer mehrsprachigen Gemeinschaft in immer zahlreicheren Situationen statt der bislang dominanten Sprache A zunehmend die Sprache B benutzen. Einem Sprachenwechsel geht demnach immer zwingend ein Stadium der Mehrsprachigkeit voraus, in dem für die involvierten Sprachen bestimmte Funktionen und Domänen ihrer Verwendung, unter Umständen mit diglossischer Struktur, ausgebildet werden. Funktions- und Domänenaufteilung bleiben aber nicht dauerhaft bestehen: Der Sprachwechsel nähert sich seinem Ende in dem Maße, wie der Sprecher die Domänen und Funktionen für Sprache A beschränken und Sprache B ausbauen.32
Frédéric Hartweg hat den Sprachwechsel bei den Hugenotten Berlins detailliert dargestellt.33 Kramer bringt das auf die Formel:
Am Anfang war es die Muttersprache, zu der man mühsam die Zweitsprache Deutsch hinzulernte, wobei man mit dieser häufig bis ans Lebensende Probleme hatte; einer etwa eine Generation währenden wirklichen Zweisprachigkeit folgte eine Phase der ‚Eindeutschung’; d. h. des Übergangs der Kolonie von der französischen zur deutschen Sprache, der sich über mehrere Generationen erstreckte.34
Dieses Drei-Phasen-Modell Einsprachigkeit → Zweisprachigkeit → Einsprachigkeit wird von Böhm zu einem longue-durée -Modell ergänzt, „da der Sprachwechsel je nach Medialität, soziokulturellen und lokalen Bedingungen unterschiedlich dauerte.“35 Susanne Lachenicht unterstreicht Böhms Aussage, dass nicht von einem Modell auszugehen ist, nach dem
innerhalb von drei Generationen von französischer Einsprachigkeit zu deutsch-französischer Diglossie und dann zu deutscher Einsprachigkeit übergegangen wurde (im Kontext Brandenburg-Preußens), sondern zunächst von asymmetrischer Mehrsprachigkeit zum Zeitpunkt der Einwanderung ( Patois und Französisch, Letzteres vor allem als Gottesdienstsprache) […]. In der zweiten und dritten Generation zeichnen sich zunehmende und in der dritten und vierten Generation wieder abnehmende Mehrsprachigkeit ab (Plattdeutsch mündlich auf dem Land, Hochdeutsch oder Berlinerisch mündlich in Berlin sowie Hochdeutsch als Schriftsprache auf dem Land und in der Stadt, wenn Alphabetisierung vorlag, und Französisch als zunehmend passiv beherrschte Kultsprache bei der Mehrheit der Réfugiés, wobei sich hier je nach sozialer Schicht (und auch auf individueller Ebene) wiederum gravierende Unterschiede festellen lassen.36
Im Gegensatz zur oben beschriebenen Sprachenfrage zeigte sich die französisch reformierte Konfessionals religiöser Bereich als viel stabilere und konservativere Komponente in der hugenottischen Identitätskonstruktion. Böhm begründet das mit der Rolle der reformierten Kirche als letzter Bastion des Sprachenwechsels.37 Hartweg berichtet über das
Dilemma einer Gruppierung, die durch ihre religiös bestimmte Zusammengehörigkeit definiert und ihre Existenz durch die Eingriffe der politischen Macht als gefährlich empfindet und daher ihre Sprache als Legitimierungsmoment verteidigt, obwohl sie dadurch ein wesentliches Element ihrer geistlichen Aufgabe, nämlich die Verkündigung und die Seelsorge verkümmern läßt und dadurch z. T. ihre Existenzberechtigung oder zumindest ihren Sonderstatus einbüßt […].38
Starke Diskussionen gab es darüber, ob deutsche Predigten in den französischen Kirchen Berlinseingeführt werden sollten, da es häufig Klagen über fehlende Französischkenntnisse bei den Kinderngab. Dieser Vorschlag wurde abgewiesen, da er „gefährlich und seine Folgen für die Erhaltung unserer Kirche nachteilig sein konnten.“39 Um der Gefahr der „Eindeutschung“ zu begegnen, wurde seitens der Berliner hugenottischen kirchlichen Behörden die französische Sprache zum wichtigsten Identifikationselement, um den Sonderstatus zu wahren. Hartweg schreibt dazu:
Das Singen der französischen Psalmenund nicht der Lieder des deutschen Gesangbuchs, das Französische als „lingua sacra“, was keineswegs den Gebrauch des Deutschen im Alltag ausschloß, hatten symbolischen Wert, dessen Verlust die geistige Identität gefährdete.40
Das Sprachenproblem blieb jedoch auf der Tagesordnung, was ein Beschluss aus dem Jahr 1781 beweist, zweisprachige Ausgaben des Neuen Testaments mit französischem Text und deutscher Übersetzung anzuschaffen.41
In diesem Zusammenhang wurde auch der Katechismus und der Goudimelsche psaultier huguenot verwendet, an dessen Stelle am Ende des 18. Jahrhunderts das livre de cantiques trat.42 Wie bei den Lutheranern spielte die Übersetzung der Bibel in die Volksspracheeine zentrale Rolle. Der calvinistische Gottesdienst war streng und nahe am Bibelwort ausgerichtet. So basierte die Predigt auf einer vom Pastor ausgewählten Bibeltextstelle, die von Bibellesungen, Liedernund Gebeten illustriertwurden. Der Psalmgalt für die Reformierten als gesungenes Gebetund der Hugenottenpsalter als ein wichtiger Bestandteil hugenottischer Frömmigkeit. Die Psalmenwurden seit dem 16. Jahrhundert gesungen,43 und das galt auch für den Unterricht. Der Genfer Katechismus von Calvin bildete die Grundlage der Instruktion der Jugendim brandenburgischen Refuge und war damit auch das wichtigste Lehrbuch, nicht nur im Katechismusunterricht. Bei den Bibelausgabenreichte bald eine zweisprachige Ausgabenicht mehr aus. Böhm zeigt anhand der Schulgeschichte der Hugenottenkolonie in Strasburg bei Berlin, dass man hier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutsche Übersetzung angeschafft haben muss.44 Noch im Jahr 1783 hatte das Berliner Konsistorium im Bereich des Liedgutes und Psalmengesangs eine Neuauflage der vom hugenottischen Pastor Hauchecorne45 herausgegebenen Psalmensammlungbeschlossen.46 Ab 1791 wechselte die Berliner Gemeinde zu einem neuen, von den Pastoren Hauchecorne und Henry herausgegebenen Gesangbuch, das „nur noch einen Teil der Psalmen, dafür aber 40 hymnes und 95 cantiques in französischer Sprache enthielt, die nach deutschen Melodien gesungenwurden.“47 Die beiden Herausgeber argumentierten dazu im Vorwort, dass dieses neue Gesangbuch notwendig geworden sei, weil „die Psalmen veraltete Redewendungen enthielten und für nunmehr fremd gewordene Verhältnisse stünden.“48 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden keine eigenen Gesangsbücher mehr gedruckt und die Berliner reformierte Gemeinde übernahm für die deutschsprachigen Gottesdienste auch die deutschen Gesangsbücher.49
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