10) Die konzeptionelle Mündlichkeit (Kap. 3.5.2 und 3.5.3)
Das Erzählen in Mündlichkeit kann den Rezipierenden den Eindruck vermitteln, das Geschehen und die Reden der Figuren, d.h. die face-to-face- Situationen der fiktionalen Welt, fänden im Hier und Jetzt der direkten Kommunikation statt. Diese dem theatralischen Spiel mit der Gegenwärtigkeit der Situation (Kap. 4.1) vergleichbare Illusionsbildung wird nicht nur durch die mediale Mündlichkeit erzeugt, sondern ist auch der konzeptionellen Mündlichkeit des Diskurses zu verdanken. Durch Modellierung der text- bzw. diskursinternen konzeptionellen Mündlichkeit können Autorinnen und Autoren und reale Erzählende das Verhältnis von Distanz und Nähe zur fiktionalen Welt regulieren, die phatische und expressive Funktion gegenüber der referentiellen privilegieren, Memorierungshilfen geben und damit ihren Diskurs flexibel gestalten – je nach ästhetischem und pädagogischem Erzählkonzept und je nach kontextuellen Klassenraumbedingungen.
4 Mündliches Erzählen als Performance: die Dimension des Performativen
In diesem Kapitel werden die Potenziale der werkseitigen, performativen Dimension mündlichen Erzählens als Aufführung erforscht. Dabei werden die wesentlichen Merkmale einer Aufführung auf der Ebene des Systems1 (Kap. 4.1-4.4), der Norm (4.5) und der Rede (4.6) herausgearbeitet und auf das Erzählen als Performance bezogen. Kapitel 4.1 stellt die Ereignishaftigkeit der Aufführung in den Mittelpunkt. Kap. 4.2 untersucht die Nähe der Erzählperformance zum Theater. Diese Nähe bildet die theoretische Basis für die Erarbeitung des Kommunikationsmodells „Mündlich-fiktionales Erzählen als Performance“ (4.2.1). Kapitel 4.3 untersucht die Semiotizität der (Performance-)Aufführung auf der Ebene des Systems. Dazu werden die der Erzählperformance zur Verfügung stehenden Zeichen und Zeichenkombinationen aufgelistet und deren Funktionen und Wirkungsweisen in der Performanceaufführung erläutert. Mit der Erörterung des Prinzips der Verwandlung werden in Kapitel 4.4 die Merkmale der Aufführung miteinander verbunden, die Erlebnishaftigkeit von Aufführungen, deren Rahmung und deren Kommunikationsmöglichkeiten dargestellt. In Kapitel 4.5 werden auf der Ebene der Norm Inszenierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Erzählperformances diskutiert (Kap. 4.5.1). Auf der Ebene der Rede werden Kriterien zur funktionalen Analyse der Erzählperformances und Teil 2 des Fünf-Dimensionen-Modells erarbeitet (4.5.2). Kapitel 4.6 stellt die Potenziale der performativen Dimension im Gesamtzusammenhang dar.
4.1 Erzählen als Performance (1): die Aufführung als Ereignis
Das folgende Kapitel erfasst das mündlich-verbale Erzählen aus der Perspektive einer Aufführung. In der theater- und literaturwissenschaftlichen Literatur (Fischer-Lichte 2005a: 16, 22, Pfister 2004: 516f.) wird der Begriff der Aufführung schwerpunktmäßig auf Veranstaltungen im öffentlichen Raum und auf Theateraufführungen oder Konzerte angewandt. Die Auffassung vom mündlichen Erzählen als Aufführung im Fremdsprachenunterricht ist im Augenblick noch eher ungewöhnlich, im Rahmen der aktuellen Diskussion um den performativen Fremdsprachenunterricht (Hallet 2010c, Surkamp / Hallet 2015, Schewe 2011, 2015 und Kap. 11.3.1 der Studie) jedoch von großem Interesse.
Um die Erkundung des performativen Potenzials für den Fremdsprachenunterricht mithilfe des Aufführungsbegriffs durchführen zu können, werde ich im Rekurs auf die Performancetheorie Fischer-Lichtes ein Konzept für das mündliche Erzählen als Performance und als Aufführung entwickeln und an jeder Station der Konzeptentwicklung die Frage nach der Übertragung auf die Unterrichtssituation klären.
4.1.1 Der Performance- und der Aufführungsbegriff
Zentral für die Klärung des Performancebegriffsist die Unterscheidung aus sprachwissenschaftlicher und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Aus sprachwissenschaftlicher, auf Austin zurückzuführender Perspektive (Bußmann 2008: 514f, Fischer-Lichte 2004: 31, 2005b: 234) wird mit Performanz die individuelle Sprachverwendung (im Gegensatz zur Kompetenz, der allgemeinen Fähigkeit zur Sprachverwendung) bezeichnet. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wird Performance bzw. Performativität unterschiedlichen Aktionen in unterschiedlichen Handlungsfeldern wie z.B. dem Theater, der bildenden Kunst, Konzerten, Festlichkeiten, Wettkämpfen sowie rituellen, aber auch alltäglichen Handlungen zugeschrieben. Beide Perspektiven bezeichnet Pfister als die „beiden semantischen Hauptachsen und “ (Pfister 2004: 516). Fischer-Lichte unterscheidet zwischen drei Konzepten:
erstens einem schwachen Konzept, das „die Handlungs- und Gebrauchsdimension von Sprache“ (Fischer-Lichte 2005b: 234) meint,
zweitens einem starken, das sich bezieht „auf eine Äußerung, die das, was sie bezeichnet, zugleich auch vollzieht“ (a.a.O.), also auf eine performative Äußerung in einem illokutionären Sprechakt,
drittens einem radikalen Konzept, das „auf die Fähigkeit des Performativen, eine operativ-strategische Funktion zu erfüllen […]“ (a.a.O.) verweist.
In dieser Funktion wird das Performative seit der performativen Wende in den 90er Jahren als Ausdruck für kulturelle, als Aufführung inszenierte Handlungen verwendet: „Die Metapher von begann ihren Aufstieg.“ (Fischer-Lichte 2005b: 237)
Den Begriff der Aufführungdefiniere ich im Rekurs auf Fischer-Lichte (2005a: 16) wie folgt:
Unter Aufführung wird ein Ereignis verstanden, das zu einem bestimmten Anlass an einem verabredeten Ort zur verabredeten Zeit stattfindet und „aus der Konfrontation zweier Gruppen von Personen hervorgeht.“ (Fischer-Lichte 2005a: 16) Beide Gruppen teilen sich die Rollen der Akteure und der Zuschauerinnen und Zuschauer und „durchleben“ (a.a.O.) das Ereignis gemeinsam. Die Rollen sind klar getrennt, ein Rollenwechsel ist jedoch möglich. Die Bedeutungserzeugung erfolgt im Augenblick des Ereignisses aus der Kommunikation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und deren Wahrnehmung des Geschehens. Die Besonderheit der Kommunikation in einer Aufführung besteht in ihrer Medialität und Materialität einerseits, in der Semiotizität der zum Einsatz kommenden Zeichen sowie dem ästhetischen Prinzip der Verwandlung andererseits. Darüber hinaus wird der Charakter der Aufführung bestimmt durch den Grad an Öffentlichkeit bzw. Privatheit der Aufführung, durch die o. g. und weiteren kontextuellen Faktoren, die als Rahmen der Aufführung dienen, sowie durch das Inszenierungs- bzw. Aufführungskonzept.
Der Öffentlichkeitscharakter von Aufführungen wird von Seiten der Theatersoziologie und teilweise auch der Mündlichkeitsforschung als unabdingbare Voraussetzung bzw. als eines ihrer wesentlichen Charakteristika (Rapp 1973: 175, Zumthor 1983: 40) angesehen. Meiner Studie werde ich einen weiten Aufführungsbegriff zugrunde legen, der auch Veranstaltungen, die in halb-öffentlicher, d.h. auch in institutioneller Sphäre1 stattfinden, als Aufführungen ansieht, soweit sie die o. g. Prinzipien realisieren. Der weite Aufführungsbegriff ist m. E. aus zwei Gründen gerechtfertigt: Erstens ist der Öffentlichkeitscharakter einer Aufführung im einzelnen Klassenzimmer zwar eingeschränkt dadurch, dass der Teilnehmerkreis geschlossen ist, aber das einzelne Klassenzimmer ist Teil eines größeren Ganzen. Nachrichten von den in geschlossenen Klassenzimmern angewandten Lerninhalten und -methoden dringen nach außen, in die Schulöffentlichkeit hinein und auch über die Grenzen der einzelnen Schule hinaus, und sie sind von öffentlichem Interesse. Insofern ist auch hier Öffentlichkeit hergestellt. Zweitens stellt der Öffentlichkeitscharakter nur einen der Einflussfaktoren dar, die den Rahmen der Aufführung bilden. Es wird darum gehen, die eingeschränkte Öffentlichkeit einer Aufführung im Klassenzimmer zu berücksichtigen und diesen Faktor zusammen mit anderen, vom schulischen Kontext vorgegebenen Rahmenfaktoren in den Blick zu nehmen und deren Einfluss auf die Realisierung der Erzählperformances festzuhalten (Kap. 4.4.1).
Читать дальше