Er bezeichnet den Kreuzestod Christi als exemplum insofern, daß der äußere Mensch ihm darin in seiner Bereitschaft zum Martyrium folgen soll. Christi Tod ist sacramentum dadurch, daß er den Menschen zur Buße auffordert, durch die sich auch in ihm das Absterben der Seele vollzieht und er so der Macht der Sünde entzogen ist. Augustin hat die beiden Begriffe also jeweils auf den homo interior (Buße) und den homo exterior (Nachfolge) bezogen.7 Indem Luther die Unterscheidung im Sermon aufgegriffen hat, hat er diese Differenzierung des Menschen in den homo interior und exterior aufgehoben, sondern beide auf den ganzen Menschen bezogen. Dazu gewichtet er sie unterschiedlich: der Tod Christi als sacramentum ist eine abgeschlossenene Handlung, die keiner Folgehandlung mehr bedarf, er ist exemplum insofern, daß der innerlich gewandelte und mit der Gottesliebe ausgestattete Mensch als Folge dessen nun nach dem Exempel Christi handelt, ohne daß es ihm eine Leistung abverlangte oder als solche zu begreifen wäre.8 Darin zeigt sich auch ein anderes Verständnis des Lebens Jesu bei Luther: er sieht es nicht mehr – wie die Tradition in Nachfolge Augustins – im ganzen als Leidensgeschichte und disciplina mora, die uns zur Nachahmung aufgegeben ist, sondern es ist zuerst durch seinen Tod uns zum sacramentum geworden, in dessen Folge uns ein Handeln nach den Tugenden erwächst. Luther bindet die Wirksamkeit des Sterbens Christi als sacramentum und exemplum an die rechte Passionsbetrachtung: Christus wird uns zum sacramentum durch das von Gott geschenkte rechte Bedenken und der darin am Betrachter bewirkten conformatio. Er wird zum exemplum für das eigene Leben, was ebenso als Wirkung der conformatio anzusehen ist: Gott gestaltet den Menschen im rechten Betrachten zum Exemplum Christi. Gott bewirkt im Menschen, daß er die Tugenden vollzieht. Dem entspricht auch Luthers Gedanke, daß uns Christus zuvor Gabe und Geschenk (= Versöhnung) werden muß, bevor er zum Exempel wird9. Versöhnungslehre In der Art und Weise, in der Luther den Zusammenhang von Zorn Gottes, Leiden Christi und Rechtfertigung des Menschen darstellt, ist erkennbar, daß die für die westliche Theologie prägende Versöhnungslehre des Anselm von Canterbury auch sein Denken geformt hat. Ebenso deutlich wird auch, daß er Schwerpunkte neu setzt, aber indessen überhaupt nicht beabsichtigt, in seiner Anleitung zur Betrachtung des Leidens Christi eine systematisch lückenlose Darstellung eines Versöhnungskonzeptes zu bieten. Im Vordergrund seines Interesses steht für ihn dagegen statt eines Weges, wie Gott zu versöhnen sei, der Mensch, seine Begegnung mit dem Leidenden und die Weise, auf der ihm das Leiden Christi zunutze wird. Wesentliche Elemente von Anselms Konzept kommen zur Sprache: Gott hegt Zorn und „unwanckelbarn“ Ernst über Sünde und Sünder. Er verlangt von seinem Sohn, der eine große, unmeslich person“ („unendlich“ im anselmschen Sprachgebrauch) ist, eine schwere Buße, „um der Sünde meines Volks willen“ (Jes 53). Das Maß, in dem aber der Sünder büßen müßte, wäre unvergleichlich höher als das der Buße Christi. (4) Christus leidet wegen der Sünde des Menschen. (5) Seine Wunden und Leiden sind meine Sünden, die er trägt und bezahlt. (13) Das für ihn Wesentliche am Verständnis des Sterbens Jesu beschreibt er aber anhand der Formulierung in Röm 4,25, daß er gestorben sei um unserer Sünden willen, und deutet dies in zweierlei Weise: daß sein Sterben um unserer Sündenerkenntnis willen geschehen ist und daß er dadurch die Sünde erwürgt hat. Er überwindet schließlich unsre Sünden in der Auferstehung. Wenn „wir das kecklich gleuben, ßo seynd sie todt und zu nichte worden“. (13) Den Schwerpunkt legt er in seiner Anleitung demnach nicht bei der Versöhnung Gottes, sondern bei dem Menschen, d.h. bei seinem Glauben, daß die Sünden keine Wirkung mehr haben. Im weiteren legt er nicht die satisfactio oder den Weg der Ermöglichung der göttlichen gnädigen Annahme des Verdienstes Christi dar, sondern entfernt sich von der juristischen Rechnung Anselms. Aus dem folgenden geht hervor, daß nach seinem Denken Christus nicht den Zorn Gottes versöhnt. Der Zorn wird nicht aufgehoben, sondern er wirkt sich aus im Leiden Christi und also in unserem Leiden im Gewissen. Gnade oder die Gerechtsprechung oder die Beseitigung der Sünden wird nicht aus der juristischen Perspektive plausibel, sondern dadurch, daß Christus die Sünden trägt und überwindet, so daß sie tot und zunichte werden. Das Wesen der Rechtfertigung liegt hier nicht in der satisfactio, sondern in der Vernichtung der Sünde. Es scheint demnach, daß Luther den Schwerpunkt des Geschehens am Kreuz, von der anselmschen Versöhnungstheorie abweichend, verlagert: Zum Einen auf das menschliche Erkennen: die Erkenntnis seiner selbst und seiner Sünde und ebenso der Liebe Christi und Gottes, zum anderen will er den Trost vermitteln nicht dadurch, daß die juristische Unrechtslage beseitigt ist, sondern dadurch, daß die den Menschen erschreckende und ängstigende Sünde entmachtet und tot ist. 2.1.1.3 Die anderen Sermones de passione Zwei weitere Sermone sind überliefert, in denen Gedanken des Sermo von 1519 einen klaren Vorläufer finden. Das Passionsverständnis Luthers ist schon angelegt in den sermones de passione aus dem Jahr 1518 und vor 15181. Gemäß dem Sermo I gehört zum homo spiritualis, daß er „gaudeat cum gaudentibus et fleat cum flentibus“. (336) Umso mehr sollte der Mensch, „in quo Christus habitat“, mit ihm weinen, trauern und zittern. Zur Betrachtung des Gekreuzigten gehört daher der affectus in dem hohen Maße, „ac si soziatus Christo in passione“. Das Mitleiden ist aber nicht nur eine Erwartung, die Luther an den Leser stellt aufgrund von dessen Menschsein und Verbundenheit mit Christus, sondern eine Ermahnung: „Deinde discat sic cognitionem ex Christo, ut magis ploret“. Im Weinen, in der compassio liegt der Schlüssel zum Erkennen. Wir sind tatsächlich Mitgenossen mit Christus, denn sein Leiden ist in erster Linie sacramentum, denn sein leiblicher Tod bedeutet unseren geistlichen Tod, den wir mit ihm sterben, und darin bezeichnet er auch unsere Auferweckung.2 Die Erkenntnis aus der compassio besteht nun in der Selbsterkenntnis, die uns zeigt, „quales simus intus coram deo“. (337) Hierin hat Luther sich schon von der Tradition gelöst: nicht mehr der quantitative Unterschied in den Tugenden ist es, die uns erschreckt und zur imitatio antreibt, sondern die Erkenntnis der eigenen Verfassung vor Gott läßt uns verzweifeln.3 Diese Erkenntnis ist in der traditionellen compassio nicht enthalten: „homines in carnalis affectu Christo compatiuntur“; sie wollen ihn trösten, aber der fleischliche Affekt führt dazu, daß sie „se ipsis neglectis et super se ipsos non flentes“ (338). Er betrachtet diese Art der compassio also eher als eine Flucht vor der Erkenntnis seiner selbst. Schon im Sermo II hat Luther dem Affekt eine wichtige Rolle in der Passionsbetrachtung zugeschrieben: vor allem er ist einzuüben, „ideo iste affectus maxime in illa est exercendus“, denn er und die Gottesliebe sind die entscheidenden Faktoren in der rechten Betrachtung: „affectus enim et amor in Deum omnia reliqua facile docet“.4 So bleibt die compassio ein tragendes Element der Passionsbetrachtung, doch sie steht nun im Dienste der Erkenntnis; ebenso wie der Affekt als solcher, der zuvor als zu beherrschender Gegenspieler der Vernunft galt, aber hier bei Luther zum Mittel der Erkenntnis geworden ist.5 Einen weiteren Aspekt aus der Tradition hatte Luther schon im Sermo II aufgenommen: Die Gegenüberstellung von foeditas, Häßlichkeit und species et forma, der Schönheit6. Er nimmt zunächst die Rede vom Gottesknecht nach Jes 53 auf, der „ohne Gestalt noch Schöne“ war. Daneben stellt er die Schönheit des Gekreuzigten, species et forma, nach Ps 45,2. Doch die Erkenntnis der Schönheit des Gekreuzigten hängt daran, die „oculi cordis“ oder die „oculi spirituales“7 zu öffnen und in Christus die Tugenden zu erkennen, die seine schöne Gestalt ausmachen.
Читать дальше