1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Doch in der Rede von der Schönheit Christi, die auch eine direkte Verbindungslinie zur Hoheliedfrömmigkeit und der darin enthaltenen Gedanken von der Liebe zwischen der Seele und Christus zieht, ist ein weiterer Gedankengang verborgen, der auch im Sermon von 1519 auftauchen wird: Die schöne Gestalt Christi läßt Gott erkennen, die Häßlichkeit aber macht die Verfaßtheit des Menschen sichtbar, die Christus am Kreuz für den Menschen trägt: „foeditas et passio … nostra es et nostri nobis indicat notitiam. Nam tales nos indicat esse intus in anima“. Das Leiden Christi ist also „speculum tui ipsius“8; als Spiegel führt es in die Selbsterkenntnis. So dient auch dieses Bild der Tradition dem Anliegen Luthers: In der Kreuzesbetrachtung sind Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis aneinander gebunden. Darum kann er schon im Sermo II wie auch später im Sermo von 1519 betonen: Alles Betrachten ist nur dann sinnvoll, wenn der Mensch das Geschaute auf sich bezieht, wie es auch bei einer Salbung empfindbar ist: Er soll denken, dies sei alles ihm geschehen, „tibi soli haec fecerit“.9 Das Mitweinen, das Gefühl, Mitgenosse im Leiden Christi zu sein, die Selbsterkenntnis, die dem Betrachter aufgeht, wenn er einen anderen, Christus, betrachtet, die Erkenntnis, daß die eigene Verfaßtheit durch einen anderen angenommen und getragen ist, das Vertrauen, daß mit dem Geschauten genau er, der Betrachter, gemeint ist, alle diese Elemente des Verständnisses der Passion bringen eines zum Ausdruck: noch bevor der Betrachter sich dem Gekreuzigten zugewandt hat, hat dieser sich schon in eine Beziehung zu ihm gesetzt. So ist bei aller Nähe zur Tradition in seinen beiden frühen sermones doch ein wesentlicher Unterschied der Tradition gegenüber zu erkennen: Es ist nicht der Betrachter, der sehen und handeln muß, um in Bezug zu Christus zu treten, sondern Handelnder und eine Wirkung Hervorbringender in der Begegnung am Kreuz ist Christus selber. In seinem frühen Sermo II spricht Luther seinen Zuhörern eine Empfehlung aus, was sie für „hodie et hoc anno“ aus der Predigt behalten sollen: „ut semper Christum inspicere adsuescatis et caritatem ibidem eius aestimare, saltem semel singulis diebus et ei gratias agere pro ista summa caritate“10. So steht eingängig und für den praktischen Lebensvollzug brauchbar vor Augen, was er an der Passionsbetrachtung für entscheidend hält: Im Schauen auf Christus, im Schätzen seiner Liebe und im täglich neuen Danken besteht der Gewinn für den Menschen, der über Christi Tod nachsinnt. In dieser starken Aussage ist erkennbar, daß die Betrachtung des Gekreuzigten nicht auf die Passionszeit begrenzt ist, sondern den Menschen zur Lebensgestaltung nach der Passion einlädt. 2.1.2 Die Bedeutung von Liedern zur Zeit der Reformation 2.1.2.1 Die theologische Bestimmung der Musik bei Martin Luther Luther praktizierte selber Musik: Er war Flöten- und Lautenspieler, er sang und war darin gut bewandert; es scheint, daß man in seinem häuslichen Kreis recht anspruchsvoll mehrstimmig sang. Er war befreundet mit berühmten Musikern seiner Zeit, z.B. Ludwig Senfl, Heinrich Isaak, Johann Walter, mit dem er auch eng zusammenarbeitete. Er verehrte Pierre de la Rue (Burgund), Josquin des Prés (Mailand, Rom), deren Kompositionen sich unter Zeitgenossen höchster Achtung erfreuten. Luther weist der Musik eine wesentliche Position in seinem theologischen Denken zu. Es gibt einige Texte von ihm, die explizit der Musik gewidmet sind.1 Luther steht mit seiner Musikauffassung auf dem Boden der Tradition der artes liberales, bei denen die Musik als eine der Künste des Quadriviums eingeordnet wird neben der Astronomie, Geometrie und Arithmetik. Er kennt die Musiktraktate des Mittelalters2 und die antike Musiktheorie pythagoreisch-platonischer Prägung, wie sie durch Boethius3 an das Mittelalter übermittelt wurde. In seinen Texten zur Musik zeigt sich, daß Luther dieser Tradition verbunden bleibt und gleichzeitig über sie hinausgeht: Er integriert die traditionellen Aussagen in seine eigene, auf seinem theologischen Ansatz basierende Anschauung. Dies wird in den folgenden Punkten zur Musikanschauung Luthers deutlich. Musik als Abbild der kosmischen Harmonie In seiner Vorrede zu den Symphoniae iucundae von Georg Rhau (1538)1, bezeichnet er sie als donum dei, creatura dei, als Schöpfungsgabe Gottes. Sie ist „von Beginn der Welt an mitgeschaffen und der Schöpfung innewohnend“2. Mit solch einer Aussage umschreibt er die gelehrte, pythagoreische Tradition, nach der sich in der Musik der wohlgeordnete Kosmos und sein Ordnungsprinzip abbildet: Das System der Musik beruht auf Zahlenproportionen, die der Geordnetheit, der Harmonie allen Seins zugrunde liegen. Weiter sagt er von der Musik, „das sie aller bewegung des Menschlichen hertzen eine Regiererin, jr mechtig und und gewaltig ist, durch welche doch offtmals die Menschen, gleich als von jrem Herren, regiert und überwunden werden. Denn nichts Auf Erden krefftiger ist, die Trawrigen frölich, die Frölichen trawrig, die Verzagten hertzenhafftig zu machen, die hoffertigen zur Demut zu reitzen, die hitzige und übermessige Liebe zu stillen und zu dempffen, den neid und hass zu mindern …, die leute entweder zu tugend oder zu laster zu reitzen …“ Es spiegelt sich die antike Anschauung: Von der musica mundana, die sich auf die Bewegung der Sphären (Sphärenharmonie) und die Abfolge der Jahreszeiten als Zusammenordnung der Elemente, also die Ordnung im Makrokosmos bezieht, unterscheidet man die musica humana, die die Harmonie des menschlichen Mikrokosmos bewirkt: sie zeigt sich im Wirken der Temperamente, der Glieder und Organe, im Verhältnis zwischen Seele und Leib wie dem Gleichgewicht der seelischen Kräfte. Die Seele ist nach pythagoreisch-platonischer Auffassung aus konsonierenden Zahlen zusammengefügt, darum kann die erklingende Musik Einfluß auf sie nehmen.3 Diese Anschauung ist unübersehbar im zitierten Text Luthers: die Fähigkeit der Musik, auf Seelenzustände Einfluß zu nehmen, wie auch das Ideal eines maßvollen Verhältnisses der seelischen Zustände und der Zügelung der Leidenschaften ist hier abzulesen. Luther führt auch biblische Beispiele für den Einfluß der Musik auf die Seele an: „Wie denn im Könige Saul angezeigt wird, uber welchen, wenn der Geist Gottes kam, so nam Dauid die Harffen und spielet mit seiner Hand, so erquicket sich Saul, und ward besser mit jm, und der böse Geist weich von jm.“ Indem die Musik die menschlichen Affekte beherrscht, schützt sie vor der Versuchung durch den Teufel. So rät er im Brief an Organisten Matthias Weller 1534: „Wenn ihr traurig seid, und will uberhand nehmen, so sprecht: Auf! Ich muss unserem Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal …: denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel.Und greift frisch in die claves und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie David oder Elisäus taten. Kommet der Teufel wieder und gibt Euch ein Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muß itzt meinem Herrn Christo singen und spielen“4. Hier wird die Bedeutung hörbar, mit der bei Luther die menschlichen Grundaffekte „Freude“ und „Traurigkeit“ belegt sind: Traurigkeit ist darin begründet, daß der Teufel Besitz vom Menschen ergriffen hat, sie ist also Zeichen des Unglaubens; Freude ist Zeichen der Herrschaft Christi über den Menschen, Zeichen des Glaubens. Luther stellt Theologie und Musik einander gleich in der Hinsicht, daß nur diese beiden „Ruhe und ein fröhliches Herz“, d.h. den Glauben, bewirken können. So schreibt er: „Es liegt klar zutage, daß der Teufel, der Urheber aller traurigen Sorgen und verwirrenden Unruhen, vor dem Klang der Musik gleichsam flieht, so wie er auch vor dem Wort der Theologie flieht.“5 Indem die Musik also als musica humana auf menschliche Affekte Einfluß hat, erweist sie sich nicht nur als Lenkerin des menschlichen Mikrokosmos, sondern auch als dem Teufel ebenbürtige Macht, weil in ihr Christus am Werk ist.
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